Viele Patienten suchen mit Beschwerden ein Krankenhaus auf, die zumindest gleich gut, wenn nicht besser, im niedergelassenen Bereich behandelt werden könnten. Aber warum tun sie das, und was ist notwendig, damit Patienten in der richtigen Ebene der Gesundheitsversorgung einsteigen?
Für Mag. Georg Ziniel, MSc, Geschäftsführer Gesundheit Österreich, ist in diesem Zusammenhang die Definition bedarfsadäquater Allgemeinmedizin wichtig, vor allem was Tätigkeitsumfang und Honorierung betrifft. „Der eigentliche Kern ist die Aufwertung der Allgemeinmediziner, weil sie zunehmend mit chronischen Erkrankungen zu tun haben, die sonst weiterwandern in spitalsambulante oder stationäre Behandlung, wenn in der Primärversorgung nicht adäquat behandelt wird. Mit den ‚ambulatory care sensitive conditions‘* haben wir relevante Hinweise auf jene Spitalsaufenthalte, die eigentlich gar nicht ins Krankenhaus gehören, sondern nach dem Stand der Wissenschaft im niedergelassenen Bereich zu behandeln sind, zum Beispiel COPD: Hier haben wir eine dreifache Hospitalisierungsrate zu vergleichbaren Ländern, dabei ist das eine standardmäßig behandelbare Krankheit. Die Lösung wäre einfach: standardmäßig Spirometrien in der Allgemeinmedizin anzubieten und zu honorieren, also im niedergelassenen Bereich eine adäquate und erreichbare allgemeinmedizinische Versorgung aufzubauen, die im Netzwerk arbeitet. Eine zweite Lösung wäre für mich so etwas wie das ‚Horner Modell‘, also Erstaufnahmestationen mit Filterwirkung. Die Evaluierungsergebnisse waren sehr gut, die vordefinierten Ziele wurden erreicht. Die Menschen haben eine gute Erstberatung von Medizinern erfahren und sind dann auch wieder beruhigt weggegangen. Und nur die Hälfte der Personen hat sich in der Folge bei einem Arzt einen Termin ausgemacht. Wäre das nicht gewesen, dann wären sie alle im Krankenhaus gelandet.“
Interessant ist für Ziniel auch das Modell der hausarztzentrierten Versorgung in Baden-Württemberg: Der Hausarzt koordiniert als erste Anlaufstelle für den Patienten sämtliche Behandlungsschritte und nimmt damit die Funktion eines Lotsen wahr. Der Versicherte verpflichtet sich für mindestens ein Jahr, bei gesundheitlichen Problemen immer zuerst zu seinem Hausarzt zu gehen. Ausgenommen sind Notfälle, Besuche beim Gynäkologen, Augen- oder Kinderarzt. Der Hausarzt übernimmt die Behandlung, überweist bei Bedarf an andere Fachärzte bzw. Krankenhäuser und hat idealerweise einen umfassenden Überblick über die Krankengeschichte des Patienten sowie die vorgenommenen Behandlungen. Damit werden Mehrfachuntersuchungen und -behandlungen, vermeidbare Wechselwirkungen von Arzneimitteln, Interpretationsfehler isoliert arbeitender Spezialisten sowie unnötige Besuche bei anderen Ärzten und unnötige Krankenhauseinweisungen vermieden.
Ein zentrales Instrument des Vertrages ist die hausarztspezifische Fortbildung. Patienten profitieren von Abschlägen bei Medikamentenzuzahlungen, erweiterten Öffnungs- und kürzeren Wartezeiten sowie von speziellen Präventionsprogrammen.
„Es gibt bereits gesicherte und anspruchsvoll erarbeitete, messbare Ergebnisse: Eine wissenschaftliche Studie der Universitäten Frankfurt/Main und Heidelberg zum Baden-Württemberg-Modell hat bestätigt, dass die Patienten eine bessere medizinische Behandlung erfahren. Die Rückmeldungen waren von allen beteiligten Berufsgruppen positiv. Das Ausmaß von Verschreibungen sowie die Überweisungen in Krankenanstalten sind rückläufig, auch die Zahl an Hüftgelenksfrakturen. Damit ist auch ein ökonomischer Effekt verbunden. So etwas ist auch für Österreich vorstellbar“, so Ziniel.
BM Dr. Sabine Oberhauser meint zur Steuerung der Patientenströme: „Ein Gate-Keeping-System werde ich sicher nicht zulassen, aber wir müssen die Patienten in Bahnen bringen. Man muss das niedergelassene System so attraktiv machen, dass Patienten nicht zuerst die Spitalsambulanz aufsuchen, weil dort immer jemand zur Verfügung steht. Mit dem Primärversorgungskonzept kann das klappen – wenn es erweiterte Öffnungszeiten von 7 bis 19 Uhr gibt und zusätzliche Leistungen wie zum Beispiel ein Labor und die Versorgung kleinerer Verletzungen angeboten werden. Also eigentlich die klassische Hausarzt-Tätigkeit.“
Auch Mag. Bernhard Wurzer, Verbandsmanager im Hauptverband, betont die Wichtigkeit der Steuerung von Patienten, denn „sonst funktioniert das System nicht. Die Frage ist nur, wie wir Steuerungssysteme ansetzen können. Von Seiten der Sozialversicherung gibt es ein ganz klares Commitment, dass ein solches Steuerungssystem nicht auf Zwang oder Pflicht oder Bestrafung aufbauen kann. Der Gatekeeper-Funktion erteilen wir eine klare Absage. Was wir wollen, ist, dass die Steuerung durch eine qualitativ hochwertige Versorgung erfolgt. Wenn die Primärversorgung als erste Versorgungsstufe qualitativ hochwertig und attraktiv ist, gehen die Menschen gar nicht automatisch zum Facharzt, und damit werden die höheren Versorgungsebenen ohnehin nicht angesteuert. Vieles hängt vom Bild des Hausarztes ab, das die Menschen haben. Wenn der Hausarzt der ist, der alle Informationen über die Patienten hat, der die Krankengeschichten kennt, der die Familiengeschichte kennt, dann müssen wir das den Patienten auch wieder als Wert vermitteln – dass durch diese umfassende Information viele Dinge auch erspart werden können, an Leidensweg, an unnötigen Wegen. Wir sollten gemeinsam mit der Ärztekammer eine Informationskampagne in diese Richtung starten, so nach dem Motto „Liebe Patienten, bei eurem Allgemeinmediziner bekommt ihr eine Rundum-Versorgung!“
Patientenanwalt Dr. Gerald Bachinger: „Eine Steuerung ist sicher sinnvoll und unabdingbar, aber dies wird nicht über Strafzahlungen wie Ambulanzgebühren oder Anordnungen funktionieren. Als erste, essenzielle Voraussetzung muss das Angebot bedarfs- und bedürfnisgerecht sein. Das bedeutet, dass überhaupt eine Struktur vorhanden sein muss, die die Patienten nutzen können.“
Für Bachinger gibt es drei wichtige Eckpunkte:
„Dies sind übrigens die Gründe, warum die Patienten heutzutage in die Ambulanzen strömen, obwohl sie dort sehr lange warten und vollkommen unpersönlich betreut werden. Wenn dies nicht gegeben ist, werden weder Strafzahlungen noch Bonuszahlungen die Patienten dazu bringen, ein suboptimales derzeitiges Angebot in Anspruch zu nehmen.“
Flankierend dazu wird laut Bachinger das neue Teweb eine Steuerung übernehmen können. „Steuerung ist für mich vor allem ein kultureller Begriff, also es muss für die Bevölkerung vollkommen selbstverständlich sein, als Erstes das PHC anzusprechen und nicht eine andere Versorgungsstufe. Das kann man aber nicht befehlen oder anordnen, dazu muss vor allem das fachliche Angebot stimmig sein.“
* Unter ACSC versteht man eine Reihe von Krankheitskomplexen, bei denen für die betroffenen PatientInnen ein Krankenhausaufenthalt potenziell vermeidbar wäre und die Problemfelder in der (Primär-)Versorgung aufdecken können. Zu den ACSC zählen einerseits chronische Krankheiten wie Diabetes mellitus und Asthma bronchiale, andererseits aber auch akute Erkrankungen wie Lungen- oder Blinddarmentzündung mit auftretenden Komplikationen. ACSC werden mittlerweile weltweit als Indikatoren für die Qualität der Diagnostik und Therapie in der Primärversorgung, aber auch für das Management des jeweiligen Krankheitskomplexes herangezogen. Besonders in Ländern wie Österreich, in denen der Zugang zur Krankenversorgung von Patientenseite gut steuerbar ist (im Vergleich zu Ländern, wo praktische Ärzte eine Gatekeeping-Funktion haben), spiegeln ACSC hauptsächlich die Qualität der Versorgung wider.
Quelle: www.hauptverband.at