Ob und wann wieder Fernreisen möglich sein werden, ist derzeit noch unklar. In unserem Beitrag haben wir uns daher auf Neuerungen bei den Empfehlungen zu jenen Impfungen konzentriert, bei denen einerseits Änderungen im letzten Jahr publiziert wurden und die andererseits auch für uns alle, die wir heuer wohl eher daheim oder im nahen Europa bleiben werden, von Interesse sind.
Änderungen gibt es unter anderem bei der Empfehlung für die Polio-Auffrischungsimpfungen: Nach zwei Auffrischungsimpfungen im Erwachsenenalter sind weitere Impfungen nur bei Indikation vorgesehen.
Noch immer bestehen in Österreich große Impflücken: „Wir können davon ausgehen, dass es kaum einen erwachsenen Österreicher gibt, der alle Impfungen entsprechend den Empfehlungen erhalten hat. Den meisten fehlen einzelne Impfungen etwa bei Diphtherie, Pertussis, FSME; ganzen Genrationen fehlen Impfungen gegen Masern, Mumps und Röteln.“ Univ.-Prof. Dr. Herwig Kollaritsch plädiert daher dafür, jeden Arztbesuch zur Überprüfung des Impfstatus zu nutzen, insbesondere gilt das für die Reisemedizin: „Jede reisemedizinische Impfberatung beginnt mit der Kontrolle der Standardimpfungen.“
Jeder sollte laut Impfplan zwei Masernimpfungen erhalten haben oder – wenn die Erkrankung durchgemacht wurde – es sollte diese mit einer serologischen Untersuchung bestätigt sein. „Dessen ungeachtet gehen wir im Hochrisikobereich einen Schritt weiter und empfehlen bei Hochrisikopatienten abgesehen von der 2-maligen Impfung auch die serologische Überprüfung“, so Kollaritsch: Zeigen sich im IgG-Test keine Antikörper, sollte ein Neutralisationstest erfolgen. Ist auch dieser negativ, muss neuerlich geimpft werden.
Entsprechend dem neuen Impfplan Österreich sind nach 2 Auffrischungsimpfungen im Erwachsenenalter weitere Polio-Impfungen nur bei Indikation vorgesehen, wie Kollaritsch erläutert. Sind nach der Grundimmunisierung im Säuglingsalter und Auffrischungsimpfung im Schulalter schon mindestens zwei oder mehr Auffrischungsimpfungen gegen Polio erfolgt, wird nur noch mit dem Dreier-Impfstoff (Diphtherie – Tetanus – Pertussis) aufgefrischt. Ausgenommen sind jedoch Personen, die in Endemie-Gebiete reisen. Das sind einerseits Gebiete mit Wildviren-Polio, wie Afghanistan und Pakistan, andererseits Länder mit vom Polio-Impfstoff abgeleiteten Viren. Dazu zählen jene Staaten Afrikas und Asiens, in denen noch mit Lebendimpfstoff geimpft wird und Erkrankungsfälle mit vom Impfstoff rückmutierten Viren beobachtet werden. „Die Polioimpfung, primär ja eine Routineimpfung, ist somit – eine ausreichende Immunisierung vorausgesetzt – zu einer Reiseimpfung geworden“, betont Kollaritsch: „In Endemiegebiete Reisende sollten vollständig gegen Polio geimpft sein.“
Die präexponentielle Tollwutimpfung zählt zu den wichtigsten Reiseimpfungen. Neben dem etablierten Impfschema mit den Impfungen an den Tagen 0–7–21 (oder 28) wurde vor einigen Jahren auch ein Schnellschema zugelassen (an den Tagen 0–3–7), das schon davor in der postexponentiellen Immunisierung als sogenanntes “Essener Schema” in Gebrauch war.
Zweierschema Off-Label. Vor dem Hintergrund nicht ausreichender Impfstoffmengen hat die WHO 2018 auch eine Empfehlung für nur 2 Teilimpfungen im Abstand von nur 7 Tagen ausgesprochen. Das Zweierschema wurde in einer belgischen Studie evaluiert, in der sich kein Unterschied in der Immunantwort zeigte. Dieses neue Schema ist jedoch nicht offiziell zugelassen und kann somit nur Off-Label zur Anwendung kommen, was einer intensivierten Aufklärung und dokumentierten Zustimmung bedarf, wie Kollaritsch betont. Es sollte daher nur als Ausnahme gewählt werden, wenn nicht ausreichend Zeit für eine Immunisierung nach dem Dreierschema zur Verfügung steht.
Bei der Frage der Boosterung geht man in Österreich nach der Zweierimpfung einen „Mittelweg“, wie Kollaritsch erläutert: „Wir wissen von vielen anderen Totimpfstoffen, dass das Immungedächtnis nach nur 2 Teilimpfungen nicht so perfekt ausgebildet ist wie nach 3 Teilimpfungen. Deshalb empfehlen wir in Österreich, wenn die Immunisierung nur im Zweierschema erfolgt ist, eine einmalige Auffrischung nach einem Jahr.“
Boosterung situationsbezogen. Prinzipiell sollte eine Boosterung anlassbezogen erfolgen. Im Verletzungsfall mit einem tollwutsuspekten Tier ist unabhängig davon, wann die Grundimmunisierung erfolgt ist, eine zweimalige Auffrischung vorzusehen. „Fährt der Reisende jedoch in eine Endemieregion, in der im Falle einer Verletzung mit tollwutsuspektem Tierkontakt die zeitnahe Verfügbarkeit eines modernen Impfstoffes nicht gewährleistet wäre, empfehlen wir die Auffrischung vor der Reise.“
Die Rationale für die angesprochene WHO-Empfehlung zum Zweierschema ist vor dem Hintergrund weltweit nicht ausreichender Impfstoffmengen zu verstehen, so Kollaritsch: „Die Weltimpfstoffproduktion ist, um den Weltbedarf zu decken, nicht ausreichend, vor allem nicht unter der ehrgeizigen Kautele der WHO, die Welt bis 2030 tollwutfrei zu bekommen. Darüber hinaus hat ein Zweierschema auch logistische Vorteile.“ Dass das Ziel mit 2030 tatsächlich realistisch ist, gilt als unwahrscheinlich. Wichtig sei, dass auf dieses Ziel hingearbeitet werde, denn die Tollwut stellt immer noch ein gravierendes Problem dar. Die Erkrankung ist absolut letal. Weltweit sterben pro Jahr mindestens 50.000 Menschen an Tollwut. Österreich und Westeuropa gelten seit 2008 als frei von terrestrischer Tollwut. Neben der terrestrischen Tollwut, die in unseren Breiten hauptsächlich von Füchsen übertragen wird, gibt es jedoch auch die sogenannte „Fledermaustollwut“, die vor allem in Südamerika und Afrika verbreitet ist, aber auch in Europa nicht ganz auszuschließen ist. In Österreich, wo regelmäßige Untersuchungen der Fledermauspopulationen erfolgen, wurde bislang keine tollwutinfizierte Fledermaus nachgewiesen, vereinzelt jedoch in anderen europäischen Ländern, darunter auch in Deutschland. Eine Übertragung auf den Menschen ist in Europa bislang in 2 Fällen in Schottland dokumentiert.
Die Cholera ist zwar nach wie vor in weiten Teilen Asiens und Afrikas endemisch, insbesondere in Krisengebieten mit miserablen hygienischen Bedingungen. Neueren Daten zufolge kommt der Cholera jedoch im internationalen Reiseverkehr keine Bedeutung zu, wie Kollaritsch betont. Insgesamt sei das Risiko bei touristisch Reisenden mit weniger als 1:3–5 Millionen als extrem gering einzustufen. In der Regel würden Cholerainfektionen meist unter dem Bild einer normalen Reisediarrhö verlaufen (Ausnahme: Kleinkinder). „Teilweise erfolgt die Cholera-Schluckimpfung auch unter den Auspizien, dass diese einen gewissen Restschutz auch gegen Reisedurchfall verleihe“, so Kollaritsch. „Diese Indikation ist in Europa jedoch nicht zugelassen.“
Bis vor kurzem galt für die Gelbfieberimpfung eine internationale Gültigkeit von 10 Jahren. 2016 hat die WHO die offizielle Gültigkeit auf lebenslang hochgestuft. Vor dem Hintergrund weltweit limitierter Gelbfieber-Impfstoffmengen zielt die WHO mit dieser Empfehlung auf den mit den verfügbaren Mengen maximal erreichbaren Kollektivschutz durch Primärimmunisierung. Das stehe in Diskrepanz zu den Zielsetzungen der Reisemedizin, die auf den Individualschutz abzielen muss, so Kollaritsch. Bei Reisen in Ausbruchsgebiete ist daher sehr wohl nach 10 Jahren eine Auffrischung zu empfehlen. All jene Reisenden, die nur aus formalen Gründen eine Gelbfieberimpfung (verpflichtende Einreisevoraussetzung) benötigen, bedürfen jedoch keiner Auffrischung mehr. Die Situation bei Gelbfieber hat sich in der letzten Saison wieder entspannt, insbesondere auch in den großen, touristisch frequentierten Küstengebieten Brasiliens, die in der Saison 2017–2018 erstmals nach 30 Jahren wieder betroffen waren. „Trotz der Verbesserung ist die Situation als labil einzustufen“, sagt Kollaritsch, da immer wieder auch sogenannte „Epizootien“ beobachtet werden: Werde eine größere Anzahl von an Gelbfieber gestorbenen Affen in Nähe menschlicher Behausungen gefunden, gelte das als Alarmsignal.
Bei Dengue-Fieber ist eine enorme Zunahme der Fallzahlen zu beobachten, insbesondere im südamerikanischen Raum. „Nach wie vor gibt es keine Impfung, die wir Reisenden anbieten können, und es wird auch so bald keine geben“, erläutert Kollaritsch. Die einzige derzeit zugelassene Impfung kommt für Reisende nicht in Betracht, da sie nur bei Personen, die Dengue schon durchgemacht haben, zum Einsatz kommen kann.
Werden Menschen geimpft, die noch nie mit Dengue-Virus in Kontakt waren, laufen sie Gefahr, im Falle einer natürlichen Infektion schwerer zu erkranken. Das erklärt sich über die Ausbildung einer großen Menge nichtvirusneutralisierender Antikörper, die im Falle einer Infektion zwar das Virus besetzen, es aber nicht eliminieren. Damit steigt also die Viruslast weiter an, und es kommt zu einem schweren Krankheitsverlauf: „Das ist übrigens auch die Angst beim Corona-Impfstoff.“
Erwarten Sie sich als Folge der COVID-Krise Änderungen in der Impfbereitschaft?
Univ.-Prof. Dr. Herwig Kollaritsch: Generell glaube ich, dass jetzt die Chance für die Akzeptanz einer Impfung gut wäre. Ich fürchte allerdings auch hier wieder Querschüsse der Impfgegner-Lobby.
Was sagen Sie dazu, dass die bis jetzt erfolgten Maßnahmen laufend kritisiert werden?
Nur weil wir weniger Neuinfektionen haben, ist die Sache nicht vorbei. Das Virus ist genau das gleiche, es hat uns schon gezeigt, was es kann.
Wie beurteilen Sie die schrittweise Öffnung?
Diese ist bewusst kaskadiert. Wir klopfen jede der Maßnahmen auf ihre Wirkung ab. Der für mich springende Punkt ist: Unsere niedrigen Zahlen haben den Vorteil, dass man mit ihnen umgehen kann. Hier können wir effizient prüfen und haben dafür die Kapazitäten. Hätten wir 1.000 Neuinfektionen pro Tag, ginge das nicht mehr. Die Cluster sind jetzt als solche erkennbar und gehen nicht im Hintergrundrauschen unter …
Erwarten Sie sich unabhängig von einer etwaigen verfügbaren SARS-CoV-2-Impfung jetzt eine Veränderung im Impfverhalten? Eine höhere Impfbereitschaft?
Nein. Allenfalls bei Influenza, bei den anderen Impfungen eher nicht. Es wird leider zu schnell vergessen.
Welche Durchimpfungsrate erwarten Sie im kommenden Jahr bei Influenza?
Ich fürchte, dass wir zu wenig Impfstoff haben werden, weil die Firmen uns in den Mengen beliefern, in denen ihnen erfahrungsgemäß in den Vorjahren Impfstoff abgekauft wurde. Im vergangenen Jahr wurde mehr nach Österreich geliefert, als verbraucht wurde, und musste von den Herstellerfirmen verworfen werden.
Halten Sie größere Liefermengen noch für möglich?
Die Impfstoffproduktion läuft ja bereits. Es werden alle Länder der Welt heuer einen höheren Bedarf an Influenza-Impfstoff anmelden. Die, die schon bisher einen guten Absatzmarkt hatten, werden wohl bevorzugt beliefert werden. Ich hoffe daher, dass seitens der Politik und der Versicherungen größere Mengen bestellt und auch eingekauft werden. Es braucht wohl eine Abnahmegarantie.
Erwarten Sie sich in der Bevölkerung generell eine Änderung im Hygieneverhalten, wo sich die Effekte auch bei anderen Infektionen zeigen könnten?
Ja, ich hoffe, dass ein Lerneffekt eintritt, wenn Masken, Händedesinfektion und physische Distanzierungsmaßnahmen über mehrere Monate angewendet werden. Für verantwortungslos halte ich es, wenn die Maßnahmen jetzt schon relativiert werden.
Vorausgesetzt, die schrittweisen Öffnungen gehen so weiter, wie geplant, und auch die Grenzöffnungen kommen: Was macht das mit unserem Reiseverhalten? Was raten Sie?
Das kann man noch nicht sagen. Bis zur Reisefreiheit wird es noch dauern, jedoch auch dann ist Vorsicht geboten. Selbst bei formeller Öffnung der Grenzen sind ja die Rückreisebestimmungen mit möglicher Quarantäne mitzu-kalkulieren. Bei Zielen außerhalb Europas muss auch eine gewisse Unkalkulierbarkeit der Maßnahmen mitberücksichtigt werden. In drei Wochen Urlaub kann sich die Situation komplett ändern und eine Rückreise unmöglich machen. Ich glaube daher, dass heuer kein nennenswerter Fernreisetourismus möglich ist. Selbst im Individualtourismus ist das Risiko mitzukalkulieren, gegebenenfalls hängen zu bleiben.
Kommt die zweite Welle?
Es wird von jedem und jeder Einzelnen abhängen, wie konsequent er oder sie sich verhält. Wir müssen natürlich mit gewissen Undulationen rechnen, kleinen Wellchen, die immer wieder rund um kleinere Cluster auftreten werden. Ein zweiter Shutdown muss jedoch verhindert werden. Wir haben enorm viel erreicht in extrem kurzer Zeit, das sollten wir nicht mutwillig aufs Spiel setzen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zwar werden wir in Corona-Zeiten möglicherweise noch länger kaum die Chance auf große Reisen haben. Dennoch stellt sich die Frage: Was kann Reisenden im Hinblick auf ihre Reiseapotheke geraten werden?
Was empfehlen Sie Reisenden im Hinblick auf die Reiseapotheke?
Ich empfehle die Klassiker. Ich rate, immer jene Medikamente mitzunehmen, die auch zu Hause häufig für diverse banale gesundheitliche Störungen gebraucht werden. Das lässt sich nicht generalisieren. Der eine hat öfter Kopfweh, der andere hat seltener Kopfweh, ein anderer hat Magenprobleme et cetera. Mitnehmen sollte man Medikamente, mit deren Verwendung man vertraut ist. Zusätzlich sollte noch eine Durchfallmedikation mitgenommen werden.
Was empfehlen Sie als Notfallmedikation zur Behandlung von Reisedurchfall?
Seit kurzem gibt es mit dem Enkephalinase-Hemmer Racecadotril ein antisekretorisch wirksames Medikament, das den Vorteil hat, nicht die Darmmotilität zu beeinträchtigen, sondern nur die Sekretion. Antibiotika sollten auch von Individualreisenden in exponierten Gebiete nur mit großer Sorgfalt zur Anwendung kommen. Studien zeigen bei Personen, die Antibiotika für Reisedurchfälle einnehmen, eine hohe Frequenz an Fehlbesiedelungen mit ESBL-Bakterien.
Was raten Sie Expeditionsreisenden?
Für Individual- und Expeditionsreisende in exponierte Gebiete wird eine entsprechende Beratung in reisemedizinischen Zentren empfohlen, in deren Rahmen auch eine situationsangepasste Reiseapotheke besprochen wird.