Während dieses Thema sicher nicht zu den Dauerbrennern der letzten Dekade zählt, hat sich in den letzten Jahrzehnten unser Verständnis der Pathomechanismen und Behandlung (sowie der Kollateralschäden) von rezidivierenden Harnwegsinfekten (rHWI) geändert. Die Vereinheitlichung auf die nun gängige Definition von mehr als zwei Episoden pro Halbjahr beziehungsweise mehr als drei Episoden pro Jahr war letztendlich auch ein Erfolg des vergangenen Jahrzehnts. In den Leitlinien wurde auch nicht zwischen verschiedenen Patientenkollektiven unterschieden, während heute schon differenziert wird, ob sich die rezidivierenden Harnwegsinfekte bei ansonsten gesunden Frauen, Schwangeren, solchen in der Postmenopause oder solchen mit Vorerkrankungen ereignen. Auch wurden in dieser Dekade erstmalig rezidivierende Harnwegsinfekte bei Männern differenziert betrachtet.1 Hier gibt es eine große Überschneidung mit der chronischen Prostatitis und dem chronischen Beckenschmerzsyndrom.
Im Online-Archiv der EAU finden sich dankenswerterweise die jährlich überarbeiteten Leitlinien seit dem Jahr 2001. Dieses wichtige Archiv ermöglicht einen Vergleich der medizinischen Praktiken. Bereits vor 20 Jahren war beispielsweise eine hereditäre Komponente des rHWI bekannt.2
War vor bis zu zehn Jahren die Bereitschaft, rezidivierende Harnwegsinfekte mit antibiotischer Langzeitprophylaxe zu behandeln, weitaus größer, haben uns zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse von unerwünschten Nebeneffekten zu größerer Vorsicht ermahnt. Vor dem Einsatz antibiotischer Langzeitprophylaxe werden nun häufiger nichtpharmakologische Interventionen ausgereizt.
Eine neu entstandene Medikamentenklasse des letzten Jahrzehnts, welche zwar nicht von Urologen verschrieben wird, aber dennoch ihre Relevanz bei rHWI hat, ist die der Gliflozine. Diese modulieren über SGLT-2 eine Glukosurie und somit eine bessere glykämische Kontrolle bei Diabetikern. Rasch mehrten sich die Berichte, wonach dies mit einer höheren Inzidenz an genitalen Infekten und Harnwegsinfekten einhergeht. Letztlich dürften die Gliflozine bei stabiler Stoffwechsellage aber zumindest subjektiv nicht zu einer erhöhten Inzidenz von HWI führen3, wobei es hier womöglich Unterschiede innerhalb dieser Substanzklasse geben dürfte.4
Anfang der 2010er-Jahre wurde die nichtantibiotische Behandlung und Prophylaxe von rHWI verstärkt beleuchtet. 2013 erschienen zwei systematische Reviews von Wagenlehner et al. sowie Beerepoot et al., nach welcher sich beispielsweise die orale Immunprophylaxe sowie die vaginale Östrogensubstitution bei postmenopausalen Frauen als therapeutische Option langsam in der täglichen Praxis durchsetzten.5, 6
Nachdem erste Hinweise auf die zuträglichen Effekte von Cranberry-Präparaten Anfang der 2000er-Jahre aufgetaucht waren und rasch in den populären Medien Niederschlag gefunden hatten, empfahlen die Leitlinien auch deren Anwendung bei rHWI. Der prophylaktische Effekt wurde durch eine Metaanalyse aus 2012, wonach keine signifikante Reduktion von symptomatischen Episoden nachgewiesen werden konnte, jedoch etwas in Frage gestellt.7 Ähnlich verhielt sich die Empfehlung für Lactobacillus-hältige Prophylaktika: vor zehn Jahren war deren Anwendung noch als „vernünftig“ empfohlen. 2015 folgte eine Cochrane-Analyse, welche die dürftige Datenlage aufzeigte8; nun ist in den Leitlinien eine unkritische Empfehlung ausgesetzt, bis bessere klinische Daten vorliegen.
Hieraus könnte der Eindruck entstehen, die Anwendung von Probiotika in der rHWI-Prophylaxe ist endgültig diskreditiert – doch das Gegenteil ist der Fall: Die Forschung auf diesem Gebiet erfährt gerade einen Aufschwung.
Einen Durchbruch schaffte auch die Anwendung von Mannose zur Prophylaxe von rHWI: 2014 konnte in einer randomisiert-kontrollierten Studie gezeigt werden, dass die Rate an Harnwegsinfekt-Episoden signifikant sinkt – bis hin zu einer gleichwertigen Wirkung wie bei Nitrofurantoin, und das bei weniger unerwünschten Wirkungen.9
2011 trat auch die intravesikale Instillation von Glykosaminoglykanen mit einer randomisiert-kontrollierten Studie auf das Parkett.10 Diese Substanz ist jedoch nicht überall erhältlich und findet derzeit limitierte Anwendung.
Großen Einfluss auf die tägliche Praxis hatte letztlich auch die Warnung der FDA Mitte 2018, wonach der Einsatz von Fluorchinolonen zur Behandlung unkomplizierter Harnwegsinfekte eingeschränkt werden soll.11 Diese Substanzgruppe war aufgrund steigender Resistenzraten schon spätestens seit der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts in Kritik geraten, in den Leitlinien davor war sie aber noch als gleichberechtigte Option in der Langzeit- bzw. postkoitalen Prophylaxe angeführt.
Die Prinzipien der Marktwirtschaft haben die Forschung und Entwicklung von neuen antibiotischen Substanzen im letzten Jahrzehnt nahezu zum Erliegen gebracht. Im Lichte bedrohlich steigender Resistenzraten haben sich jedoch auf Treiben internationaler Player wie der Weltgesundheitsorganisation hin Initiativen gegründet, welche abseits von Pharmakonzernen die Forschung und Entwicklung in Richtung neuer antibiotischer Substanzen fördern, und dies trotz der geringen Gewinnaussichten im Vergleich zu onkologischen Therapeutika. Auch werden gerade neue Arten der Finanzierung für Antibiotika getestet: So bezieht das National Health Service des Vereinigten Königreichs seine Antibiotika nicht direkt stückweise vom Hersteller, sondern über ein Abonnement-Modell. Damit soll der ökonomische Druck einer rein nachfrageorientierten, kompetitiven Marktwirtschaft auf alle Antibiotika verteilt werden und so verhindern, dass weniger profitable Substanzen rasch wieder vom Markt verschwinden.
Derzeit befinden sich 50 neue Antibiotika in Entwicklung12; die meisten davon sind Derivate von bekannten Beta-Laktam-Antibiotika, 13 davon befinden sich in klinischen Phase-III-Studien. Hier lässt sich ein leichter Zuwachs feststellen, wobei diese Entwicklung laut der Weltgesundheitsorganisation weiterhin als nicht ausreichend betrachtet wird, um der Zunahme an Resistenzen adäquat zu begegnen.
Sehr rezent sorgte auch das Massachusetts Institute of Technology (MIT) für Aufhorchen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft, indem dort neue, sehr potente antibiotische Substanzen mit Hilfe von künstlicher Intelligenz und Machine Learning gefunden wurden. Werden auch die Herausforderungen in der Herstellung überwunden, stellt dies möglicherweise den langersehnten Durchbruch in der Entwicklung neuer Antibiotika dar. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns in zehn Jahren neue Substanzen zur Verfügung stehen werden, ist also nicht gering.
Neue Erkenntnisse werden uns erlauben, das Krankheitsbild des rezidivierenden Harnwegsinfekts in mehrere Subtypen zu differenzieren. Unsere bisherige Beobachtung, wonach die verschiedenen Krankheitsverläufe von Patienten die Vermutung nahelegen, es handle sich um verschiedene Krankheiten, wird sich bestätigen. So werden wir unsere Patienten auch behandeln: Bei einigen anderen Krankheitsbildern kann man den Trend zur breiteren Diagnostik sowie zur symptomorientierteren Behandlung schon heute beobachten – wie zum Beispiel in der Diagnostik und Behandlung des chronischen Beckenschmerzsyndroms.13
Die seit wenigen Jahren erkennbare Bewegung hin zur Erforschung nichtpharmakologischer Behandlungsoptionen, sowohl in supportiver als auch in kurativer Rolle, wird sich fortsetzen. Darüber hinaus wird die personalisierte Medizin auch vor dem stiefmütterlich behandelten Thema der rezidivierenden Harnwegsinfekte nicht haltmachen. In wenigen Jahren wird sich unser medizinisches Rüstzeug erweitert haben – um Heilmittel, welche wir in verschiedener Kombination unseren Patienten „an den Leib schneidern“. Dadurch werden wohl auch einige heutzutage gerne und unkritisch verwendete Medikamente in dieser Indikation verlassen werden.
Die schärfsten Pfeile in unserem Köcher werden weiterhin die antibiotischen Substanzen bleiben. Wir werden aber besser wissen, wie wir sie einsetzen. Langsam, aber sicher werden die Prinzipien des Antibiotic Stewardship in den Köpfen jedes Mediziners verankert, erst dann werden uns sinkende Resistenzraten wieder bessere Therapieerfolge bescheren – wenngleich wir umso mehr wissen werden, dass diese Erfolge nur von kurzer Dauer sind und wir daher nur die bedrohlichsten Buschfeuer damit löschen sollen.
Womöglich verankert sich auch ein langanhaltendes Verständnis für persönliche Basishygiene durch die heute so propagierten Maßnahmen zur Infekteindämmung im Lichte der SARS-CoV-2-Pandemie, und wir werden generell weniger übertragbare Infektionskrankheiten bemerken!