Univ.-Prof. Michael Musalek spricht im Interview zum Auftakt unserer mehrwöchigen Initiative Psyche über die „Stigmatisierung psychischer Erkrankungen“. Ein Magenulkus hätte immer noch eine andere Wertigkeit als eine Depression, wobei diese schon eine bessere Wertigkeit habe als eine Suchterkrankung oder Schizophrenie. Es gelingt uns als Gesellschaft also immer noch nicht, psychische Erkrankungen als Krankheiten zu sehen, die man behandeln kann, genauso wie körperliche Erkrankungen. Irgendwie wird in viel zu großen Teilen der Bevölkerung noch immer etwas Abnormes dahinter vermutet, vor dem man sich fürchtet, über das man nicht reden will. Damit erhöht sich auch die Schwelle für die Betroffenen, sich jemandem anzuvertrauen – sei es im privaten Kreis, sei es bei Arzt oder Apotheker.
Ein Versuch, den Ursprüngen der Stigmatisierung auf die Spur zu kommen: Beim Thema Health Literacy hinken wir in Österreich bekanntlich dem europäischen Durchschnitt hinterher. Das gilt wohl auch für das Wissen um psychische Erkrankungen. Wir haben diese Thematik den Menschen noch nicht gut genug erklärt, es grassieren Irrtümer, Mythen und haarsträubende Missverständnisse. Eine große Aufgabe für Medien und Gesundheitsberufe, hier für Klarheit zu sorgen. Aber vielleicht auch für Personen, die eine erfolgreiche Behandlung hatten, in der Öffentlichkeit oder in Vereinen vermehrt darüber zu sprechen. Vielleicht nimmt man dem Thema den Schrecken, wenn man sieht, dass die Betroffenen Menschen wie du und ich sind.
Einen weiteren Ursprung vermute ich in unserer Sprache. Die Wirkung von Sprache wird vielfach unterschätzt, sie gräbt sich tief ein und wird irgendwann zu einer Haltung, ohne dass es uns bewusst ist. Der Depressive ist dann schnell einmal „labil“ oder „reißt sich nicht genug zusammen“, der Burn-out-Patient ist „nicht robust genug“, bei der Alkoholkrankheit wird gerne flapsig darauf verwiesen, dass in „dieser Familie ja schon immer gerne getrunken wurde“– die Reihe ließe sich fortführen, mit noch derberen Formulierungen. Erst wenn wir bei der Sprache (und damit bei der Kommunikation) ansetzen, können wir der Stigmatisierung entgegenwirken. Achtloses „etwas so dahinsagen“ sollte der Vergangenheit angehören.
Ein Drittes: Die Rolle der Medien, womit wir eigentlich wieder bei der Kommunikation sind. Wenn in der Berichterstattung zu Kriminalfällen ein Täter als „psychisch krank“ bezeichnet wird, leistet man der Stigmatisierung Vorschub. Der furchtbare Zusammenhang in den Köpfen ist schnell geknüpft: Menschen mit psychischen Erkrankungen sind unberechenbar, können gewalttätig werden, jederzeit „auszucken“, am besten man bringt sich vor ihnen in Sicherheit, meidet sie. Auch über diese Art der Berichterstattung sollten wir nachdenken. Sonst sprechen wir auch noch in ein paar Jahren über Stigmata. Und die Zahl der Betroffenen wird wohl in Zeiten von Rezession und künftigen massiven Umwälzungen in der Arbeits- und Wirtschaftswelt nicht weniger werden – im Gegenteil …