Das Heraufbeschwören von Bedrohungen und Ängste vor dem Virus zu schüren sind keine adäquaten Steuerungsmittel gegen die COVID-19-Pandemie, erklärten Psychiater in Wien vor Journalisten.
Die geistige Gesundheit der Österreicher leide an den Maßnahmen und der sozialen Distanz. Angst, Reizbarkeit und der Verlust an Lebensfreude sind die Symptome. Tabak und Alkohol werden zu „Krisenbewältigern“, die persönliche Probleme jedoch verstärken können, sagten die Experten. Die Forscher um Michael Musalek vom Institut für Sozialästhetik und psychische Gesundheit der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien ließen vom Gallup Institut 1.000 Menschen in ganz Österreich über ihre psychosoziale Befindlichkeit befragen. Die Erhebung fand vom 15. bis 26. Mai statt, als der strikte Lockdown beendet und die Geschäfte sowie Gastronomie wieder geöffnet waren.
Die Umfrage habe gezeigt, dass ein Viertel der Österreicher von der „psychosozialen Pandemie“ betroffen sind, sagte Musalek. Die psychischen Probleme würden viel länger anhalten als eine Infektion. In der Politik und den Medien sind sie jedoch kein Thema, erklärte er: „Da geht es nur darum, wie viele Leute angesteckt sind, und um wirtschaftliche Probleme.“ Die wirtschaftlichen Sorgen sind jedoch nicht der Hauptgrund für die angeschlagene Psyche: „90 Prozent sind durch andere Probleme, vor allem durch die COVID-19-Maßnahmen, verursacht“, betonte der Psychiater. „Deshalb muss in der öffentlichen Krisenkommunikation genau darauf geachtet werden, uns Menschen immer wieder zu bestärken und zu motivieren“, sagte Oliver Scheibenbogen von der Sigmund Freud Privatuniversität: „Entscheidungsträger dürfen nicht dem Irrglauben anheimfallen, dass das Heraufbeschwören von Bedrohungen ein adäquates Steuerungsmittel sei.“
Frauen sind demnach psychisch stärker belastet als Männer, und Personen, die im größeren Städten leben, stärker als jene auf dem Land sowie in kleineren Orten. Menschen mit einem geringen Haushaltseinkommen (bis 1.500 Euro) sind auch öfter von psychischen Problemen heimgesucht als wohlhabendere, und junge Leute mehr als alte: „Personen über 50 Jahre sind deutlich geringer psychisch belastet“, berichteten die Experten. Fast jeder zweite Österreicher sei von der Coronakrise überfordert: „Dadurch liegen bei vielen Menschen die Nerven blank und sie sind reizbarer“, erklärten sie. Auch Angst sei ein typischer Begleiter der Krise. 40 Prozent der Befragten äußersten Zukunftsängste, 27 Prozent berichtete sogar von generalisierter Ängstlichkeit, die typisch für Angststörungen ist. Mehr als die Hälfte (58 Prozent) der Leute habe angegeben, dass ihre Selbstbestimmung in der Krise deutlich abgenommen hat. Ein Drittel der Befragten beklagte den Verlust von Lebensfreude. „Ein freudvolles Leben ist neben der Fähigkeit zum autonomen Leben ein zentrales Zeichen für psychische Gesundheit“, erklärte Musalek: Der Verlust an beidem bedeute deshalb Verlust von psychischer Gesundheit.
Die Menschen würden vermehrt Alkohol und Tabak als „Krisenbewältiger“ einsetzen, die jedoch als „Krisenkatalysator“ die Probleme in der Regel verstärken. Ein Sechstel der Befragten berichtete, vermehrt zu trinken. „Das ist vor allem in Anbetracht der deppressiogenen Wirkung des Alkohols problematisch“, erklärte er. Mehr als ein Drittel raucht mehr. „Wegen der erhöhten psychologischen Belastung und den berichteten Problemen braucht es verstärkt Maßnahmen, um die rasch um sich greifende Krise zu bewältigen“, sagte Georg Psota vom Psychosozialen Dienst Wien. Das seien zum Beispiel psychosoziale Krisenstäbe und niederschwellige Erstberatungsangebote, wie die Corona Sorgenhotline Wien. (red/APA)