Die Schilddrüse ist ein zentrales endokrines Organ, die von ihr produzierten Schilddrüsenhormone sind von elementarer Bedeutung für die Entwicklung und Funktion des menschlichen Organismus. Schilddrüsenhormone bestimmen die Stoffwechsellage im Körper und haben unter anderem Einfluss auf Energieverbrauch, Körperwärme, die Aktivität von Nerven, Muskeln, Herz, Kreislauf, Magen und Darm, das seelische Wohlbefinden, die Sexualität sowie – insbesondere bei Kindern – die körperliche und geistige Entwicklung.
Bislang werden allein die zirkulierenden Schilddrüsenhormon-Parameter als klinisch relevant betrachtet. Mit der Entdeckung von Transportern, metabolisierenden Enzymen und neuen intrazellulären Signalpfaden wurden in den letzten Jahren jedoch lokale Mechanismen entdeckt, die vor Ort die Schilddrüsenhormonwirkung kontrollieren. Diese Kontrollmechanismen eröffnen nun neue Möglichkeiten, die organ- oder sogar zellspezifische Wirkung der Schilddrüsenhormone gezielt zu beeinflussen.
Ein neues Forschungsgebiet LOCOTACT (Local Control of Thyroid Hormone Action) untersucht, was passiert, wenn die Blutanalyse zwar Werte innerhalb des Referenzbereiches liefert, die Hormone ihre Zielorgane jedoch nicht erreichen. Die Werte, die im Blut festgestellt werden, entsprechen laut der Forschergruppe nicht immer den Konzentrationen und den Effekten in den Endorgangen. Triiodthyronin und Thyroxin können ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn sie auch vom Zielorgan aufgenommen werden. Neue Erkenntnisse zu molekularbiologischen Prozessen und zum Einfluss der lokalen Schilddrüsenhormonwirkung in Gehirn, Leber und Herz sollen ein Licht auf die Krankheitsentstehung werfen und neue Therapieansätze ermöglichen.
„Über die Einzelheiten der Signal- und Transportwege der Schilddrüsenhormone und ihren Einfluss auf die Entstehung von Volksleiden wie Fettleber, Schlaganfall und Herzinfarkt – aber auch auf unbekannte seltene Stoffwechselerkrankungen – müssen noch viele Erkenntnisse gewonnen werden“, so Prof. DDr. Dagmar Führer-Sakel von der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel am Universitätsklinikum Essen. Erkrankungen, bei denen der Transport von Schilddrüsenhormonen in die jeweiligen Zellen der Organe durch eine Genmutation unterbunden sei, würden zeigen, welche Auswirkungen die Abwesenheit dieser Hormone in den jeweils betroffenen Organen haben. Diese können in mögliche neue Therapien und Präventionsmaßnamen einfließen.
Seltene Erkrankungen hätten die deutschen Forscher auf dieses Gebiet aufmerksam gemacht. So ist es beispielsweise bei der seltenen Erbkrankheit AHDS (Allan-Herndon-Dudley-Syndrom) der Transport von Schilddrüsenhormonen in die Organe gestört. Die Folge sind eine schwere geistige Entwicklungsverzögerung und Störung der Motorik und des Muskelaufbaus. Beim AHDS fehlt im Gehirn das aktive Schilddrüsenhormon T3. Das Hormon wird zwar ausreichend gebildet und ist auch im Blut nachweisbar. Doch der Transportweg über die Blut-Hirn-Schranke in die Nervenzellen ist durch eine Genmutation, welche die Funktion eines Hormon-Transporters betrifft, beeinträchtigt und führt zum entsprechenden Krankheitsbild.
Dieser umfassende und breite Ansatz, der Grundlagen-, translationale und klinische Forschung vereint, steht für eine neue Ära der Endokrinologie, in der eine lokale Modulation der Schilddrüsenhormonwirkung organspezifisch zur Prävention und Therapie von seltenen wie häufigen Erkrankungen eingesetzt werden kann, so die Sprecherin des gemeinsamen Forschungsverbundes mit der Universität zu Lübeck und der Charité – Universitätsmedizin Berlin.