Der Konflikt zwischen der EU und dem Pharmariesen AstraZeneca hat sich am Wochenende weiter zugespitzt. Zwar soll nun doch mehr geliefert werden, die EU will aber Exporte genau prüfen. Diskutiert wird auch über den Patentschutz. Beides könnte die ganze Branche treffen.
Der Hersteller AstraZeneca will nach EU-Angaben im ersten Quartal nun doch mehr Impfstoff liefern als angekündigt. Es kämen neun Millionen Dosen hinzu, also insgesamt 40 Millionen Dosen, teilte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Sonntagabend auf Twitter mit. Das ist allerdings noch immer nur die Hälfte der ursprünglich anvisierten Menge von 80 Millionen Dosen. Von der Leyen schrieb auch, Astrazeneca wolle eine Woche früher mit der Lieferung beginnen als geplant. Die Firma wolle zudem ihre Produktionskapazität in Europa ausbauen. Astrazeneca hatte vor gut einer Woche überraschend mitgeteilt, im ersten Quartal statt der von der EU erwarteten 80 Millionen nur 31 Millionen Dosen Impfstoff an die EU-Staaten zu liefern. Die EU reagierte empört und setzte die Firma unter Druck.
Die EU muss notfalls „alle rechtlichen Möglichkeiten und Durchsetzungsmaßnahmen“ ausschöpfen, um eine „wirksame Impfstoff-Produktion und Versorgung für unsere Bevölkerung sicherzustellen“, hat EU-Ratspräsident Charles Michel am Donnerstag betont. Möglich sei etwa ein Rückgriff auf Artikel 122 im EU-Vertrag. Dies würde der EU und den EU-Mitgliedstaaten die legalen Mittel geben „für dringende Maßnahmen“. Was dies konkret bedeuten würde, führte Michel nicht näher aus. Der Artikel erlaubt der EU Sondermaßnahmen, und „angemessenen Maßnahmen“, insbesondere „falls gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich, auftreten“. Dieser Artikel bot der EU zuletzt die Rechtsgrundlage für den 750 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds, der eine deutliche Anhebung der sogenannten Eigenmittel erforderlich machte, wenn die nationalen Parlamente zustimmen.
Der deutsche Grün-Europaabgeordnete Sven Giegold twitterte am Freitag eine Erklärung, die in der Branche Alarmglocken schrillen lässt: „Wenn ein Impftstoff-Hersteller selbst die Ausweitung der Produktion nicht leisten kann, sollten wir das Patent freigeben und die Kräfte des Marktes voll auszunutzen. Das geht über Artikel 122 des EU-Vertrags“, schreib Giegold. Auch Michel sehe dies so, fügte der EU-Abgeordnete hinzu. Aus dem Bundeskanzleramt in Wien hieß es dazu: „Wir unterstützen grundsätzlich alle Bemühungen, die zu mehr Verfügbarkeit von Impfstoffen in Europa führen, und daher ist auch dieser Vorschlag zu prüfen.“ Sollte die EU tatsächlich dermaßen drastisch in die Patente eingreifen, erinnert das an die USA. Dort berief sich Ex-Präsident Donald Trump zu Beginn der Corona-Krise auf den Defense Production Act von 1950 – ein ursprünglich für Kriegszeiten vorgesehenes Gesetz, um Schutzausrüstung uns Masken produzieren zu lassen. Dieses US-Gesetz stattet den Präsidenten bei Bedarf mit weitreichenden Befugnissen aus, im Interesse der nationalen Sicherheit in die Privatwirtschaft eingreifen zu können.
Sicher ist indes, dass der Export von in der EU produzierten Corona-Impfstoffen seit Samstag streng überwacht wird. Pharmakonzerne, die auch mit der EU Lieferverträge geschlossen haben, müssen nach einer am Freitag vorgestellten Verordnung künftig Ausfuhrgenehmigungen beantragen. Wenn Hersteller die EU bei Liefermengen unrechtmäßig benachteiligen, könnten die Genehmigungen dann verweigert werden. „Ziel ist es, mehr Klarheit über die Impfstoffproduktion in der EU und die Exporte schaffen“, erklärte der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, am Freitagnachmittag in Brüssel. Diese Transparenz fehle derzeit, sei aber unverzichtbar. Der Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs (Pharmig) hatte zuvor vor Exportbeschränkungen von Corona-Impfstoffen in der EU gewarnt. „Der Arzneimittelbereich ist, wie viele andere, stark globalisiert. Ein Verbot für Exporte von Covid-19-Impfstoffen aus der EU würde globale Lieferketten bedrohen und folglich die Versorgung mit diesen dringend benötigten Impfstoffen gefährden, und zwar überall“, betonte Pharmig-Generalsekretär Alexander Herzog in einer Aussendung. „Andere Länder könnten ihrerseits Handelswege blockieren. Das kann dazu führen, dass wichtige Zulieferungen für die Impfstoffherstellung in die EU eingeschränkt werden. Das Nachsehen hätten dann auch die Bürgerinnen und Bürger in der EU“, warnte Herzog.
Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) verwies in einer Aussendung darauf, dass es in den USA bereits vergleichbare Exportregelungen gibt. „Wir finden uns mit den angekündigten dramatischen Kürzungen der Liefermengen von AstraZeneca ganz sicher nicht ab. Die EU-Verträge mit den Impfstoffherstellern sind rechtlich bindend. Hier geht es um sehr viel und vor allem um Zeit und Planbarkeit. Daher müssen wir wissen, wie viele der in der EU produzierten Impfstoffe an Drittstaaten geliefert werden und welche noch in den Export gelangen sollen. Damit wird transparent, ob die Hersteller ihre Lieferverträge auch einhalten können. Eine solche potenzielle Verletzung vertraglicher Verpflichtungen durch die Pharmaindustrie birgt die Gefahr von Engpässen und somit von Verzögerungen in der Union. Diese Verzögerungen erschweren erheblich das Ziel, die europäische Bevölkerung zu impfen“, teilte Anschober mit. (red/APA)