Die SARS-CoV-2-(Severe-Acute-Respiratory-Syndrome-Coronavirus-2-)Pandemie beziehungsweise die virusassoziierte Erkrankung (Coronavirus Disease 2019, COVID-19) hat weltweit bis zum 13. Jänner 2021 mehr als 91 Millionen bestätigte Infektionen und etwa 2 Millionen Todesfälle verursacht. Der klinische Schweregrad von COVID-19 und die Sterblichkeit sind stark abhängig von Alter (vor allem > 60 Jahre), Rauchen, Übergewicht und bestimmten Vorerkrankungen (vor allem Herz-Kreislauf-, Lungen- und Tumorerkrankungen).
Multiple Sklerose (MS), die in Österreich etwa 14.500 Menschen betrifft, wird oft als eine Krankheit junger Erwachsener angesehen, was in Bezug auf den Erkrankungsbeginn zwar stimmt, aber eine beträchtliche Anzahl von MS-Patienten ist älter als 60 Jahre.
Grundsätzlich ist MS mit keinem erhöhten Risiko für eine SARS-CoV-2-Infektion verbunden. Bisher vorliegende Fallserien aus Italien und Frankreich deuten darauf hin, dass der COVID-19-Schweregrad und die COVID-19-Sterblichkeit bei MS-Patienten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung nicht erhöht sind. In Österreich sind aktuell (13. 1. 2021) 76 MS-Patienten mit einer SARS-CoV-2-Infektion dokumentiert: Auch hier entsprechen die Verteilungen von Schweregrad (10 % schwere Verläufe) und Sterblichkeit (3 %) den Zahlen in der Allgemeinbevölkerung.
Das Risiko für eine SARS-CoV-2-Infektion ist auch bei MS-Patienten anhand individueller Risikofaktoren abzuschätzen (Tab.). Erfreulicherweise zeigte eine aktuelle Untersuchung aus Österreich, dass nur ein sehr kleiner Teil von MS-Patienten (circa 1 %) ein hohes Infektionsrisiko aufweist. Daher gelten für MS-Patienten grundsätzlich dieselben Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen (von Richtlinien zur Desinfektion, der physischen Distanzierung bis zur Option des Homeoffice) zur Vermeidung einer COVID-19-Erkrankung wie für die Allgemeinbevölkerung. Geplante MS-Kontrolluntersuchungen sollten in Abstimmung individueller Bedürfnisse/Notwendigkeiten stattfinden. Kontrollen, die medizinisch nicht dringlich sind, können nach Möglichkeit telemedizinisch durchgeführt werden. In jedem Fall ist der Zugang zur akuten neurologischen Versorgung, beispielsweise bei einem akuten Krankheitsschub oder dringlichen Therapieentscheidungen, flächendeckend in Österreich gesichert.
MS erfordert in vielen Fällen eine krankheitsmodifizierende Intervalltherapie (DMT), die alle entweder modulierend oder suppressiv in das Immunsystem eingreifen.
Aus den bisher vorliegenden Daten (unter anderem aus Österreich) lässt sich annehmen, dass immunmodulierende DMTs (Dimethylfumarat, Glatiramerazetat, Interferon-beta-Präparate, Natalizumab und Teriflunomid) weder das Risiko für eine SARS-CoV-2-Infektion noch den Schweregrad von COVID-19 erhöhen. Bei immunsuppressiven DMTs (Alemtuzumab, Cladribin, Fingolimod, Ozanimod, Ocrelizumab, Rituximab und Siponimod) scheint das Risiko marginal erhöht, wobei die Datenlage hier noch dünn ist.
Daher folgt die aktuelle Empfehlung einem „Never change a winning team“-Konzept: Bei stabilem Krankheits- und Therapieverlauf soll eine laufende DMT unverändert beibehalten werden. Entscheidungen hinsichtlich Neubeginn einer DMT sollten wie bisher üblich unter einer individuellen Nutzen-Risiko-Abwägung getroffen werden. Aspekte der Pandemie müssen zwar berücksichtigt werden, allerdings soll in keinem Fall eine notwendige Therapie aufgeschoben oder gar verhindert werden. Bei einer akuten SARS-CoV-2-Infektion sollte eine DMT zunächst nicht begonnen oder erneut durchgeführt und bis zum Abklingen der Symptome verschoben werden.
Erfreulicherweise stehen dank eines beispiellosen Kraftakts der wissenschaftlichen Gemeinschaft nur 12 Monate nach Auftreten von SARS-CoV-2 verschiedene Impfstoffe zur Verfügung. Erstmals wird dafür auf das Konzept einer mRNA-(Messenger-Ribonukleinsäure-)basierten Impfung gesetzt, wobei deren Erfolgsrate in großen Studien (inklusive älterer Menschen beziehungsweise jenen mit Risikofaktoren) bei 94–95 % liegt. Um das angestrebte Ziel des individuellen Schutzes und der Herdenimmunität zu erreichen, gibt es in Österreich eine generelle Empfehlung zur SARS-CoV-2-Impfung.
Die Diagnose MS stellt prinzipiell keine Kontraindikation gegen Impfungen dar. Impfungen mit Totimpfstoffen, zu denen formal auch eine mRNA-Impfung zählt, können bei MS-Patienten uneingeschränkt durchgeführt werden. Hingegen sind vektorbasierte Impfungen konzeptuell Lebend-impfstoffe, daher sind bei MS-Patienten mRNA-Impfungen vorzuziehen. Aufgrund der aktuell noch beschränkten Verfügbarkeit der SARS-CoV-2-Impfdosen sollten prioritär jene MS-Patienten geimpft werden, die ein hohes/mittleres Risiko aufweisen (Tab.).
Jede Impfung, so auch eine SARS-CoV-2-Impfung, kann eine Impfreaktion mit grippeähnlichen Symptomen (Fieber, Muskelschmerzen, Abgeschlagenheit und Ähnliches) verursachen. Bei MS-Patienten kann es durch eine solche Impfreaktion zu einem sogenannten Pseudoschub kommen, der aber nicht mit einer Krankheitsaktivierung im Sinne eines Schubes verwechselt werden darf.
Grundsätzlich ist die SARS-CoV-2-Impfung, so wie jede andere Impfung, zumindest 6 Wochen vor Beginn einer DMT empfohlen. Zur Impfung unter laufender DMT liegen generell nur begrenzte Daten zum Impfschutz vor, im Falle der SARS-CoV-2-Impfung bisher gar keine.
Bei den meisten DMT (Dimethylfumarat, Glatiramerazetat, Interferon-beta-Präparate, Natalizumab und Teriflunomid) kann von einem ausreichenden Impfschutz ausgegangen werden.
Bei Behandlung mit Fingolimod, Ozanimod oder Siponimod kann die Impfantwort hingegen vermindert sein. Bei zyklisch verabreichten DMT (Alemtuzumab, Cladribin, Ocrelizumab, Rituximab) sollten Impfungen mit Totimpfstoffen, aber auch eine SARS-CoV-2-Impfung, frühestens 4 Monate nach der letzten Gabe der Therapie durchgeführt werden. Im Zweifelsfall kann der Impfschutz gängiger Impfungen serologisch („Impftiter“) überprüft werden, dies ist aber für eine SARS-CoV-2-Impfung derzeit nicht flächendeckend verfügbar.