Begonnen hatte alles mit einem Unfall vor 16 Jahren: Damals wurde Frau S. beim Joggen von einem Auto angefahren und prallte auf dem Hinterkopf auf. Die Folgen waren Bewusstlosigkeit, mehrere Frakturen – unter anderem des Unterkiefers – sowie eine Commotio cerebri. Mehrere Wochen nach ihrer Genesung entwickelte Frau S. einen morgendlichen bewegungsabhängigen Drehschwindel, der sich im Laufe des Tages zwar besserte, beim Umdrehen im Bett aber immer wieder erneut auftrat. Nach HNO-ärztlicher Begutachtung wurde die Diagnose eines gutartigen Lagerungsschwindels (BPLS) gestellt. Mit Hilfe spezieller Lagerungsübungen nach Semont und Epley verschwanden die Symptome nach wenigen Tagen. Der Drehschwindel trat zwar weiterhin ein- bis zweimal jährlich auf – die Patientin therapierte sich jedoch größtenteils erfolgreich selbst.
… verspürt Frau S. allerdings eine andere Qualität des Schwindels: Das Schwindelgefühl tritt nun beim raschen Umdrehen auf. Die ärztliche Untersuchung ergab keinen Hinweis auf einen Lagerungsschwindel, die Vitalparameter waren unauffällig, der Blutzucker war normal bei 140 mg/dl, RR und der Puls bei 135/82/79. Es zeigten sich keine zentralen Zeichen. Da die Patientin seit ihrem Unfall auch unter Problemen mit der Wirbelsäule litt, suchte sie ihren Orthopäden auf, der den Verdacht eines Zervikalsyndroms äußerte.
Weder eine medikamentöse Behandlung mit Tizanidin noch Massagen oder lokale Infiltrationen führten jedoch zur Besserung der Beschwerden. Eine Akupunkturbehandlung brachte Frau S. minimale Erleichterungen, allerdings blieb ein gewisser „Grundschwindel“ bestehen. Bis auf Amlodipin 5 mg 1-0-0 seit fünf Jahren nimmt die Patientin keine Dauermedikation.
Aufgrund der Schwindelattacken geht Frau S. nicht mehr gerne allein einkaufen, da sie Angst davor hat, auf der Straße zu stürzen. Auch längeres Lesen ist aufgrund der zunehmenden Kopfschmerzen und Müdigkeit, die bei Konzentration auftreten, nicht mehr möglich.
… (Labor, 24-h-EKG, Schellong-Test, RR-Kontrolle) sowie neurologischen Konsultationen (Nervenleitgeschwindigkeit, EEG) zeigten keinerlei Auffälligkeiten. Auch eine MRT des Gehirns vor drei Monaten zeigte bis auf kleinere, unspezifische vaskuläre Veränderungen einen unauffälligen Befund. Bei der Durchführung des Dix-Hallpike-Manövers gab die Patientin kein vermehrtes Schwindelgefühl an, auch konnte kein Nystagmus nachgewiesen werden. Der Video-Kopfimpulstest erbrachte ebenfalls einen Normalbefund, es besteht eine leichte Presbyakusis, Tinnitus wurde verneint.
… und die Beschwerdesymptomatik zunimmt, muss bei der Patientin an eine funktionelle Ursache gedacht werden. Die PPPD („persistent postural-perceptual dizziness“) bezeichnet ein anhaltendes Schwindelgefühl in aufrechter Körperhaltung. Ihr geht meist eine akute Schwindelursache, wie zum Beispiel ein BPLS, voraus. Sind die Betroffenen im Alltag komplexen visuellen Reizen ausgesetzt (Supermarkt, öffentliche Orte mit vielen Menschen, vorbeifahrender Zug etc.), können diese die Symptome verstärken. Solch eine Form der Somatisierung kommt bei älteren Menschen besonders häufig vor. Der genaue pathophysiologische Mechanismus dazu ist noch nicht bekannt. Eine Prädisposition für Angststörungen liegt vor. Nach akuten organischen Ereignissen, oft vestibulären Pathologien, tritt diese Form des Schwindels bei 15–20 % der Patienten auf.
… zur posturalen Kontrolle wurde der Patientin zusätzlich Psychotherapie empfohlen. Medikamente allein führen meist nicht zur Schwindelfreiheit, bei bekannter Angstassoziation kann jedoch eine Behandlung mit niedrig dosiertem SSRI (Escitalopram) erfolgen, ein Therapieversuch mit niedrig dosiertem Dimenhydrinat und Cinnarizin sollte im Einzelfall besprochen werden, bei Sturzgefahr sind diese Medikamente jedoch nicht indiziert.
Da die Patientin Medikamente jedoch ablehnte, wurde eine Zusatztherapie mit Johanniskraut dreimal täglich 300 mg empfohlen. Darüber hinaus nimmt die Patientin bei starken Schwindelbeschwerden eigeninitiativ homöopathische Tropfen (Vertigoheel®) ein, die ihr im akuten Zustand „ein bisschen helfen“.
… stellt eine häufige große Herausforderung für behandelnde Ärztinnen und Ärzten dar. Innerhalb eines Jahres konsultieren 50 % der Über-80-Jährigen, 30 % der Über-70–80-Jährigen und immerhin 20 % aller Über-60-Jährigen einen Arzt/eine Ärztin mit dem Problem Schwindel (M. Gosch et al., Springer Verlag 2020). Auch beim Altersschwindel lässt sich die Ursache meist durch genaue diagnostische Maßnahmen und ausführliche Anamnese ausmachen. Durch eine klinische Untersuchung können zentrale von peripheren Problemen gut differenziert werden, aufwändige Untersuchungen sind hierfür meist nicht nötig. Die Therapie sollte beim älteren Menschen auf verschiedenen Ebenen erfolgen, vor allem, um Gangsicherheit und Lebensqualität zu verbessern.