Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser!

Die Schaffung von Europäischen Referenznetzwerken (ERN) kann als Meilenstein in der Gesundheitsversorgung der Europäischen Union angesehen werden. Die Grundlagen dafür wurden vor mehr als 10 Jahren gelegt. Zu aller Anfang bestand die Erkenntnis, dass Patient*innen mit seltenen Erkrankungen nicht in ausreichendem Maße versorgt werden. In Europa sind ca. 30 Millionen von sogenannten seltenen Erkrankungen (orphan diseases) betroffen, die durch eine Prävalenz von 1 : 50 000 Erkrankten oder weniger definiert sind. Es ist daher durchaus nicht selten, dass Patient*innen mit diesen Erkrankungen beim*bei der Hausarzt*Hausärztin oder in den Notfallambulanzen der Akutspitäler auftauchen und dort nicht notwendigerweise die hohe Expertise vorfinden, die dazu notwendig ist, um diese Patient*innen fachgerecht nach den Regeln der medizinischen Kunst zu versorgen. Neurolog*innen sind an vorderster Front gefordert, hier eine aktive Rolle zu spielen, da mindestens 50 % der seltenen Erkrankungen das Nervensystem oder die Muskulatur betreffen. Durch die niedrige Prävalenz der Erkrankungen stellt es für klinisch tätige Ärzt*innen eine besondere Herausforderung dar, die notwendigen Kenntnisse in Diagnose, Therapie und Betreuung zu erwerben. Daneben kann daraus für die Patient*innen eine folgenschwere Verzögerung der korrekten Diagnose resultieren, und in manchen Fällen die Einleitung einer wirksamen Therapie nicht rechtzeitig erfolgen. Das Fortschreiten der Erkrankung stellt nicht nur eine massive Einschränkung der Lebensqualität für die Patient*innen dar, sondern lässt auch ein potenzielles Zeitfenster verstreichen, in dem eine Therapie irreversible Schäden verhindern kann. Beispiele dafür sind die wirksamen Therapien bei spinaler Muskelatrophie, neuronalen Zeroidlipofuszinose oder etwa die Identifizierung von epilepsiechirurgisch behandelbaren Syndromen. Daher ist es notwendig, dass die Expertise in diesen Krankheitsfeldern gebündelt und allen Bürger*innen Zugang zu diesem Wissen eröffnet wird, um die korrekte Diagnose und vor allem den Zugang zu den therapeutischen Möglichkeiten zu gewährleisten.

Die bisherigen Meilensteine

Der Gründung der Europäischen Referenznetzwerke sind mehrere maßgebliche Schritte vorausgegangen:

  1. Im Dezember 1999 hat die Europäische Zulassungsbehörde EMA den Orphan Drug Act beschlossen, der die Rahmenbedingungen geschaffen hat, um medikamentöse Therapien für seltene, sehr oft genetisch determinierte Erkrankungen zu ermöglichen und damit wirksame Therapien zur Verfügung zu stellen.
  2. Die Cross Border Health Care Directive der Europäischen Union über die Ausübung der Patient*innenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung ist eine Richtlinie, um Behandlungen zu ermöglichen, die nicht in allen Mitgliedstaaten zu Verfügung stehen. Dies betrifft vor allem seltene Erkrankungen und hochspezialisierte Therapien sowie chirurgische Eingriffe. Diese Richtlinie trat 2011 in Kraft und sieht nicht nur die Rückerstattung einer Behandlung in anderen EU-Ländern vor, sondern vor allem auch den Zugang zu Kompetenznetzwerken, die in dieser Zeit in einigen Mitgliedstaaten, wie z. B. Frankreich oder Italien, geschaffen wurden.
  3. Die Generaldirektion der Kommission für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (DG Santé) der Europäischen Union hat 2014 eine Ausschreibung zum Thema Referenznetzwerke und komplexe Erkrankungen geschaffen. Dabei stand im Mittelpunkt, dass auf der einen Seite seltene Erkrankungen eine besondere Diagnostik und Expertise benötigen und auf der anderen Seite diagnostische und therapeutische Prozesse notwendig sowie mehrere Fachdisziplinen und Berufsgruppen miteinzubeziehen sind. Im Rahmen dieser kompetitiven Ausschreibung gelang es, einem Referenznetzwerk für kindliche Tumoren (Kinderonkologie) mit dem koordinierenden Zentrum Wien und dem Projekt E-pilepsy mit dem koordinierenden Zentrum Lyon eine Projektfinanzierung für 4 Jahre zu sichern. Das Projekt E-pilepsy zeigte äußerst erfolgreich, wie unter der Verwendung von Telemedizin und Telekommunikation Expertisezentren gebündelt und Patient*innen erfolgreich diagnostiziert und behandelt werden können. Die Universitätsklinik für Neurologie in Salzburg spielte dabei eine entscheidende Rolle, da hier das Arbeitspaket für evidenzbasierte Leitlinien koordiniert und geführt wurde.
  4. Die erfolgreiche Zusammenarbeit im E-pilepsy-Projekt hat unmittelbar dazu geführt, dass DG Santé einen Plan zur Schaffung Europäischer Referenznetzwerke vorgelegt hat. Dabei war ähnlich einem wissenschaftlichen Projekt eine Ausschreibung geplant, mit dem Aufruf, Netzwerke von Expertisezentren zu bilden und sich um die Anerkennung zu bewerben. Voraussetzung für die Bewerbung war es allerdings, dass es in dem jeweiligen Mitgliedstaat bereits eine strukturierte Organisation von Expertisezentren gibt. Leider war Österreich hier nicht an vorderster Front, und der Prozess der nationalen Expertisezentren hinkte um mehrere Jahre hinterher, sodass in der ersten Ausschreibung österreichische Zentren nicht berücksichtigt wurden. Einzelne Personen waren jedoch bereits in der ersten Phase dieser Netzwerke entscheidend beteiligt. Einer der Autoren (Univ.-Prof. Mag. Dr. Eugen Trinka, FRCP) war bei der Gründung der Referenznetzwerke im Steering Committee des Netzwerkes für seltene und komplexen Epilepsien (EpiCARE) und wurde mit der Leitung des Arbeitspaketes Guidelines betraut. Mehrere andere Vertreter*innen der österreichischen Neurologie, unter diesen auch Priv.-Doz. Dr. Sylvia Boesch, waren bereits in der Aufbauphase der einzelnen europäischen Referenznetzwerke eingebunden.
  5. Die Inauguration der Netzwerke erfolgte 2017 in Vilnius. Nach einer weiteren, vor allem durch innere Organisation geprägten Phase wurde eine 2. Ausschreibung von der EU durchgeführt. Dabei konnten die Expertisezentren Innsbruck und die Kinderklinik in Wien für seltene neurologische Erkrankungen (RND), Salzburg für seltene und komplexe Epilepsien bei Erwachsenen und Wien für seltene und komplexe Epilepsien bei Kindern (EpiCARE) anerkannt werden.

Inklusion als Leitmotiv

Der Zusammenschluss von Expertisezentren auf nationaler und auf europäischer Ebene ist Neuland in der Organisation des Gesundheitswesens. Mitglieder der Referenznetzwerke sind nicht (nur) einzelne Personen, sondern vertragsgebunden die Träger von Krankenanstalten, die hier auch nachhaltig die Verpflichtung haben, die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um die Expertise am Zentrum aufrechtzuerhalten. Neu ist auch die nationale Vernetzung, wie es in Österreich die beiden EpiCARE-Zentren Wien und Salzburg für Kinder und Erwachsene vorleben. Es ist uns ganz wichtig, zu betonen, dass die Bildung von Netzwerken die Basis dafür ist, dass sich alle in diesen Feldern arbeitenden Kolleg*innen miteinander vernetzen und so gleichermaßen Zugang zu den Europäischen Referenznetzwerken haben. Inklusion und nicht Exklusion ist das Leitmotiv, um die bestmögliche Behandlung für Patient*innen anzubieten.