Diabetes und CKD: Multiple Ebenen der Inertia und potenzielle Lösungsansätze

Nach wie vor ist die diabetische Nierenerkrankung (DKD, „diabetic kidney disease“) die häufigste Ursache einer terminalen Niereninsuffizienz. Ihre Entwicklung verläuft oft jahrelang klinisch unauffällig, ehe sie nach frühestens 7–10 Jahren in der Regel durch eine geringe Albuminurie auffällig wird, oftmals gefolgt von einer Abnahme der Nierenfunktion. Die Bedeutung einer Früherkennung liegt nicht nur in der Möglichkeit, die Nephropathie selbst zu behandeln, sondern sie ermöglicht vor allem, das inhärente exzessive kardiovaskuläre Risiko im Rahmen einer DKD günstig zu beeinflussen. Deshalb kann das frühe und richtige Management einer DKD nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dennoch ist die Praxis des DKD-Managements ein Paradebeispiel einer klinischen Inertia, also der nicht rechtzeitigen Implementierung klarer evidenzbasierter Handlungsmaßnahmen, die sich auf den drei Ebenen von patienten-, arzt- und systembezogenen Faktoren vollzieht.

Zu später Therapiebeginn und dessen Folgen

Das Auftreten einer persistierenden Albuminurie bedingt bereits unverzüglich nephroprotektive Maßnahmen (RAS-Blockade und SGLT2-Hemmung), die immer in Verbindung mit dem Ziel einer optimalen Stoffwechselkontrolle umgesetzt werden sollten. Dies spiegelt sich auch in den neuesten Guidelines von z. B. KDIGO als Klasse-I-Empfehlung in konkreten Handlungsanweisungen wider.1 Damit ist idealerweise auch die zeitgerechte Involvierung eines nephrologischen Zentrums notwendig, insbesondere bei rascher Verschlechterung der Nierenfunktion (eGFR-Abfall > 5 ml/min/Jahr), bei plötzlichem Auftreten einer großen Albuminurie oder resistenter Hypertonie sowie bei ungewöhnlicher Klinik (auffälliges Harnsediment und/oder blander Fundus) und allerspätestens, wenn die eGFR unter 30 bis 45 ml/min abgefallen ist. Sogenannte Real-World-Evidenz zeigt aber, dass dies leider nicht die Regel ist: So demonstrieren rezente Daten aus Spanien, dass die Überweisung an nephrologische Zentren erst dann erfolgt, wenn mehr als 70 % der Nierenfunktion bereits verloren sind.2 Eine zeitgerechte Involvierung nephrologischer Expertise verhindert aber klinische Inertia und reduziert damit die Frequenz eines terminalen Nierenversagens sowie die damit verbundene Mortalität.3 In weiterer Folge, wenn die Nierenfunktion schon weit reduziert ist, findet immer noch allzu oft eine nicht plangemäße Andialyse statt; d. h., es erfolgt keine rechtzeitige Shuntanlage, sondern die infektionsanfällige Akutdialyse über Kunststoff-Katheter bzw. es wird zu selten an eine mögliche präemptive Nierentransplantation bei Patienten mit Typ-2-Diabetes bzw. eine kombinierte Nieren-Pankreas-Transplantation bei Patienten mit Typ-1-Diabetes gedacht, und damit finden lebensentscheidende Handlungen nicht statt. Diese wertvolle verstrichene Zeit ist dann direkt mit einer reduzierten Lebenserwartung betroffener Patienten verknüpft. In allen diesen Fällen erfolgt eine Therapieintensivierung und Verschleppung zeitnaher Entscheidungen regelhaft zu spät.

Mehrere Ebenen der Inertia

In diesem kurzen Abriss des Schicksals einer DKD sind mindestens zwei Komponenten einer klinischen Inertia auffällig. Erstens eine systemimmanente, da definierte multidisziplinäre Therapie-Managementprogramme für eine DKD-Versorgung fehlen, die insbesondere auch auf einer extramuralen nephrologischen Versorgung aufbauen. Eine solche existiert in Österreich wie in vielen anderen Ländern nicht (u. a. fehlende Remuneration). Zweitens kommen auch arztbezogene Faktoren hinzu, wie optimale Einbindung in ein multidisziplinäres Team mit klar definierten gemeinsamen Therapiezielen und ständig angepassten Strategien für den individuellen Patienten. Fehlt die eigentliche Vision für einen weitreichenden und nachhaltigen Behandlungsplan für den einzelnen Patienten („Wohin geht die Reise?“), so ist eine klinische Inertia die logische Konsequenz einer therapeutischen Planlosigkeit und der fehlenden Hauptverantwortlichkeit durch ein engagiertes Team.

Ein weiteres systemrelevantes Problem tritt aus dem bisher Beschriebenen auch noch zutage. So wurden in der neuen Einteilung der CKD-Stadien durch KDIGO zwar auch die frühesten Marker einer Nierenschädigung im Sinne einer Kategorisierung erfasst, der folgende logische Schritt einer frühen, integriert nephrologischen Betreuung betroffener Patienten mit therapeutischer Konsequenz wurde aber nicht gemacht. Immer noch werden Patienten, wenn überhaupt, mit einer Nierenfunktion an nephrologische Zentren überwiesen, die oftmals zu bereits > 70 % verlorengegangen ist. Auch dies ist Folge einer nicht zu Ende gedachten und praktizierten holistischen Management-Praxis eines Patienten mit Diabetes und CKD. Zudem leiden solche Patienten durchwegs an weiteren Komorbiditäten, insbesondere kardialen, sodass zwar eine fachspezifisch kardiologische Betreuung stattfinden kann, aber nicht eingebettet ist in neue und innovative Konzepte einer gemeinsamen Pathophysiologie wie etwa des kardiorenalen Syndroms (z. B. diastolische Herzinsuffizienz) und einer CKD im Rahmen eines Diabetes und damit ebenfalls oft zu spät kommt.

Lösungsansätze

Die wichtigste Herausforderung, systemimmanente Barrieren zu lösen, liegt deshalb in der Errichtung tragfähiger Management-Konzepte, die auch finanziert werden müssen. In diesem Sinne ist auch die Implementierung nationaler Register, wie diese in anderen Staaten schon längst existieren, eine sinnvolle Maßnahme. Die Erstellung entsprechender nationaler aktueller Guidelines, z. B. Nephrologie und Diabetologie, stellen die Basis dar, auf der evidenzbasiert gehandelt werden muss. Eine effektive und nahtlose Kommunikationsstrategie innerhalb der multidisziplinär engagierten Fachbereiche, insbesondere Diabetologie, Nephrologie und Kardiologie, ist eine weitere essenzielle Voraussetzung, um etwaige Unsicherheiten, Guideline-Updates, Erfahrungsdefizite und Wissenslücken („Educational Inertia“) rasch und effektiv zu überwinden. Zudem müssen die gut belegten, kostengünstigen und einfach umzusetzenden Tests, um Risikopatienten zu identifizieren, auch effektiv und sinnvoll verwendet werden (z. B. Albuminurie, eGFR, HbA1c etc.). Letztlich müssen im Rahmen eines Patientenschicksals jeweils zur richtigen Zeit die richtigen therapeutischen Entscheidungen getroffen werden, um eine therapeutische Inertia zu verhindern.

Die therapeutische Inertia ist gerade bei Patienten mit chronischen Erkrankungen vielschichtig. Hier ist der erste Schritt natürlich eine umfassende Information, Aufklärung und Schulung des Patienten auf bestmöglichem und individuell angepasstem Kommunikationsniveau, der von überragender Bedeutung ist. Rezente Daten (präsentiert auf dem letzten EASD-Meeting) aus mehreren westlichen Industriestaaten zeigen, dass bis zu 50 % aller Patienten mit Diabetes um die Gefährlichkeit einer möglichen Nierenerkrankung durch ihren Diabetes nicht wissen, und von jenen, die darüber wissen, ist der Kenntnisstand über potenziell effektive Therapiemöglichkeiten deutlich unzulänglich (ganz zu schweigen von den Patienten, die über eine mögliche DKD nichts wissen). Damit ist natürlich ein wesentlicher Grundstein einer therapeutischen Inertia gelegt, der durch sinnvolle Schulungen leicht beseitigt werden kann; dies inkludiert auch die Beseitigung allfälliger Ängste über sinnvolle und notwendige Therapiemöglichkeiten. Der Großteil der weiteren und sehr wichtigen Ressourcen, der nicht genutzt werden, um die entsprechenden therapeutischen Interventionen einzuleiten, liegt einer Reihe immanenter psychologischen Barrieren zugrunde (Motivation, Adhärenz, Neglect, Verdrängung, klinische Depressionen etc.), die wiederum die Bedeutung eines multidisziplinären Ansatzes aufzeigen (z. B. Disease Nurses, Diätologen, Psychologen, Coaching, Empowerment-Programme etc.).
Die Frage, welchen Nutzen digitale Instrumente haben (telemedizinische Ansätze), um eine therapeutische Inertia zu verringern, ist Gegenstand laufender Forschung
en. So führt die ADA gerade eine 3-jährige Studie durch (Overcoming Therapeutic Inertia [OTI]), um im niedergelassenen Ärztebereich den Einfluss maßgeschneiderter Patientenprogramme mit Hilfe von nutzerfreundlichen Programmen auf eine mögliche Erhöhung der Patientenadhärenz und den daraus resultierenden Effekten zu studieren.4
Die erst in jüngster Vergangenheit entstandene Möglichkeit, mit SGLT2-Inhibitoren effektiv eine noch in frühen Stadien befindliche DKD zu therapieren und eine vorher noch nicht beobachtete Effektivität der Nephroprotektion sowie Kardioprotektion bei Patienten zu erzielen, muss möglichst zeitnahe in alle DKD-Managementprogramme implementiert werden.5 Zudem ist diese Therapie nicht nur kostengünstig, sondern auch nebenwirkungsarm, mehr noch, das Nebenwirkungsspektrum ist bei schon eingeschränkter Nierenfunktion aufgrund der reduzierten Glukosurie auf Placeboniveau.

Resümee

Ähnlich wie Time is Muscle (Myokardinfarkt) oder Time is Brain (Insult), müssen alle am DKD-Management beteiligten Disziplinen einen Time-is-Kidney-Ansatz verfolgen, um lebenswichtige Zeit einzuholen, und nicht durch therapeutische Inertia zu vergeuden. Die bislang suboptimale Routinebetreuung von DKD-Patienten, insbesondere verglichen mit anderen Spätkomplikationen durch Diabetes, sollte von einer raschen Diagnose und Intervention abgelöst werden, v. a. angesichts der nun bestehenden Möglichkeit einer hocheffektiven Intervention, die einen Paradigmenwechsel in der pharmakologischen DKD-Therapie eingeleitet hat.6 Eine künftige idealerweise reibungslose patientenzentrierte DKD-Management-Strategie fordert deshalb einen multidisziplinären und koordinierten idealerweise präventiven Interventionsansatz, der von den Frühstadien einer DKD bis hin zur optimalen Nierenersatztherapie reicht, und mit früher Involvierung nephrologischer Expertise nicht erst in den zu späten Niereninsuffizienz-Stadien zum Einsatz zu kommen: Primum nil nocere heißt nicht Nichtstun, sondern impliziert vor allem aktives Handeln für den Patienten.


  1. Kidney Disease: Improving Global Outcomes (KDIGO) Diabetes Work Group, Kidney Int 2020; 98(4S): S1–115
  2. Martínez-Castelao A et al., Clin Kidney J 2021; 14(1): 5–8
  3. Black C et al., Health Technol Assess 2010; 14(21): 1–184
  4. Gabbay RA et al., Clin Diabetes 2020; 38(4): 371–81
  5. McGuire DK et al., JAMA Cardiol 2021; 6(2): 148–58
  6. Anders H-J et al., Nephrol Dial Transplant 2020; gfaa329