Adipositas ist eine komplexe chronische Erkrankung, deren Genese nach heutigem Wissensstand durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird. Neben der übermäßigen Zufuhr von hochkalorischer Nahrung und Bewegungsmangel spielen vor allem die Genetik, Epigenetik, neuroendokrine Faktoren und das sozioökonomische Umfeld eine „gewichtige“ Rolle bei der Entstehung und Progression dieser Erkrankung. Das Konzept, dass es sich bei Adipositas lediglich um ein Lebensstilproblem handelt und betroffene PatientInnen ihr Normalgewicht allein durch etwas mehr Disziplin und Verhaltensänderungen erreichen können, ist schon lange nicht mehr tragbar. Nicht zuletzt aufgrund der weitverbreiteten Vorurteile über die „Schuldfrage“ dieses vermeintlich „selbst herbeigeführten Zustandes“ leiden viele Betroffene unter Stigmatisierung und Diskriminierung mit körperlichen und psychischen Folgen. Adipositas ist weiterhin ein politisches und soziales Tabuthema, weshalb in Bezug auf Präventionsmaßnahmen, medizinisches Versorgungsangebot sowie Therapieerstattung eine deutliche Diskrepanz zu anderen nichtübertragbaren Erkrankungen wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen besteht.
Die multifaktoriellen Mechanismen der Adipositasentstehung und Krankheitspersistenz sind wissenschaftlich gut belegt. Durch komplexe Interaktionen zwischen Lebensstil, Umwelt und (epi-)genetischen Faktoren entsteht ein sogenanntes „Obesogenic Environment“, welches die Funktion des neuroendokrinen Systems stört, das wiederum für die Regulation von Hunger, Sattheit und Energieverbrauch zuständig ist. Der Hypothalamus spielt dabei als zentrale Schaltstelle eine entscheidende Rolle. Es wurde außerdem eine Reihe von Einzelgenmutationen identifiziert, welche insbesondere neurohumorale Faktoren wie Leptin, Proopiomelanokortin oder Melanokortinrezeptor betreffen, die für Appetitregulation und Sattheit wichtig sind.
Weiters entsteht im Rahmen der Adipositas eine chronische hypothalamische Entzündungsreaktion, wodurch sich der „Setpoint“ für das ideale Körpergewicht nachhaltig verändert. Vereinfacht ausgedrückt merkt sich das Gehirn das letzte Höchstgewicht und versucht dieses nach einer Gewichtsreduktion wieder zu erreichen, indem es zu metabolischen Anpassungsvorgängen kommt. Das Sättigungsgefühl und der Ruheenergieverbrauch sinken, der Appetit steigt. Nach einem Gewichtsverlust werden außerdem weniger anorexigene und vermehrt orexigene Hormone ausgeschüttet, was das Belohnungsgefühl bei Nahrungsaufnahme noch weiter erhöht. Dieses komplizierte Szenario stellt die Grundlage für eine neuerliche Gewichtszunahme („Jo-Jo-Effekt“) dar und ist eine der größten Herausforderungen im therapeutischen Management nach Lebensstilinterventionen.
Trotz dieser Fortschritte im Verständnis der pathophysiologischen Mechanismen von Adipositasentwicklung und Gewichtsregulation ist die öffentliche Wahrnehmung weiterhin häufig, dass die betroffenen Personen es ausschließlich selbst in der Hand hätten, ihr Gewicht zu kontrollieren. Übergewicht und Adipositas seien demnach lediglich Folge falscher Verhaltensweisen und durch Disziplinlosigkeit, mangelnde Motivation oder Faulheit geprägt. Dieses Narrativ wird jedoch nicht durch die wissenschaftliche Evidenz unterstützt, welche bereits zahlreiche biologische Ursachen identifiziert hat.
Diese Vorurteile sind auch die Grundlage für die Stigmatisierung von Personen mit Adipositas in fast allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens, am Arbeitsplatz, in der Schule, im Freundeskreis, selbst in der Familie oder im Gesundheitssystem. Massenmedien und insbesondere die sozialen Medien sind eine häufige Quelle von gewichtsassoziierten Stigmata, da hier einerseits idealisierte Körperbilder propagiert werden, welche mit der Realität wenig zu tun haben, und andererseits oft ein negatives Bild von Personen mit Adipositas gezeichnet wird, welches den gängigen Vorurteilen entspricht (Abb.).
Schätzungen zufolge enthalten in den USA etwa zwei Drittel der Bilder zur Adipositas-Berichterstattung stigmatisierende Inhalte. Menschen, die dieser Stigmatisierung ausgesetzt sind, haben ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Substanzabusus. Paradoxerweise können gewichtsassoziierte Stigmata zu einer weiteren Verschlechterung der Ernährungsgewohnheiten und sogar zu Essstörungen wie „Binge-Eating“ führen, vermutlich auch als Folge der Frustration.
Solche Beobachtungen verdeutlichen auch den Bedarf für systematische Interventionen zum Management von Adipositas unter Berücksichtigung psychosozialer Faktoren. Es benötigt strukturierte Konzepte mit niederschwelligem Zugang zu Lebensstilinterventionsprogrammen, Verhaltenstherapie sowie medikamentöser und chirurgischer Therapie. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert beispielsweise die Einführung von gesundheitspolitischen Richtlinien, welche Bewegungsangebote sowie gesunde Ernährungsalternativen für alle sicherstellen sollen. Diese müssen leicht zugänglich und leistbar sein, insbesondere für sozial benachteiligte Personen. Die Implementierung solcher Maßnahmen ist natürlich mit Kosten verbunden und erfordert ein entsprechendes politisches Engagement, was möglicherweise nicht immer im Einklang mit den wirtschaftlichen Interessen vor allem der Lebensmittelindustrie steht. Beispiele wären die Besteuerung von Süßgetränken, Nahrungsmittelkennzeichnung oder Einschränkung des Marketings für ungesunde Lebensmittel.
Die weitverbreitete Einstellung, dass es sich bei Adipositas ausschließlich um einen selbst herbeigeführten Zustand handelt, der jederzeit durch eine Verhaltensänderung reversibel wäre, schafft eine Diskrepanz zu anderen nichtübertragbaren Erkrankungen, was sich auch in der medizinischen Versorgung widerspiegelt. In vielen Gesundheitssystemen gibt es für Menschen mit Adipositas im Vergleich zu anderen chronischen Erkrankungen wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes kein adäquates medizinisches Angebot. Neben dem mangelnden Zugang zu Aufklärungsmaßnahmen, Programmen zur Lebensstilintervention und diätologischer Beratung, gibt es in einigen Ländern inklusive Österreich weiterhin keine Erstattung für medikamentöse Therapieoptionen zur Behandlung von Adipositas. Dabei wäre gerade der rechtzeitige Einsatz dieser Therapeutika in Kombination mit Lebensstilmaßnahmen eine Möglichkeit, Folgeerkrankungen zu vermeiden, um das Gesundheitssystem nachhaltig zu entlasten. Ein typisches Beispiel hierfür wären PatientInnen mit Adipositas und Prädiabetes, welche ein deutlich erhöhtes Risiko haben, einen manifesten Typ-2-Diabetes zu entwickeln, was sowohl durch den Einsatz pharmakologischer antiadipöser Therapie als auch durch bariatrische Chirurgie verhindert werden kann. Außerdem ist es sowohl aus Sicht der PatientInnen als auch aus Sicht der BehandlerInnen wenig nachvollziehbar, dass zwar die chirurgische, nicht jedoch die pharmakologische Therapie unter bestimmten Voraussetzungen erstattet wird. Somit haben die meisten PatientInnen mit Adipositas in Österreich überhaupt erst Zugang zu einer erstatteten Therapieform, wenn sie am schwersten betroffen sind, also einen Body Mass Index ≥ 40 kg/m2 haben oder bereits an Folgeerkrankungen wie Diabetes leiden und dadurch für einen bariatrischen Eingriff in Frage kommen. Diese Situation steht in einem klaren Widerspruch zu den internationalen Leitlinien zur Behandlung von Adipositas, welche den Einsatz von Pharmakotherapie in Kombination mit Lebensstilintervention bereits ab einem Body Mass Index ≥ 30 kg/m2 bzw. ≥ 27 kg/m2 bei gleichzeitigem Vorliegen von übergewichtsassoziierten Begleiterkrankungen empfehlen. Somit besteht hier ein eindeutiger gesundheitspolitischer Handlungsbedarf, da die der
zeitige Versorgungslage für PatientInnen mit Adipositas in Österreich weder den leitliniengerechten Standards entspricht noch sozial gerecht ist. Die Akzeptanz von Adipositas als ernstzunehmende chronische Erkrankung mit komplexen Ursachen wäre der erste wichtige Schritt, um Betroffenen eine adäquate multidisziplinäre Betreuung anbieten zu können.
Adipositas wird häufig noch immer als ausschließlich selbst verschuldeter Zustand gesehen, der vermeintlich durch eine einfache Verhaltensänderung („iss weniger und beweg dich mehr“) rückgängig gemacht werden kann. Betroffene Personen sind daher oft mit Stigmatisierung und Diskriminierung konfrontiert. Es besteht ein Mangel an niederschwelligen Therapieangeboten, und im Gegensatz zu anderen chronischen Erkrankungen werden die verfügbaren medikamentösen Therapieoptionen in Österreich nicht erstattet.