Orthopädie setzt sich umfassend sowohl konservativ als auch operativ mit dem Bewegungsapparat auseinander. Diese Dualität des konservativen und operativen Spektrums der Orthopädie beinhaltet den großen Vorteil, dass der optimale Zeitpunkt für die Indikationsstellung zum operativen Vorgehen wesentlich einfacher festgelegt werden kann. Das Risiko einer zu „raschen“ Operation wird dadurch ebenso reduziert wie das Verharren in alleinigen konservativen Maßnahmen. Jeder Arzt neigt dazu, jene Therapiemethoden bevorzugt einzusetzen, die er erlernt hat und auch gut beherrscht. Ein mit entsprechenden konservativen und operativen Fertigkeiten ausgestatteter Arzt bietet einerseits die Möglichkeit, in Übereinstimmung mit den Wünschen des Patienten eine Operation zu postponieren, kann aber andererseits auch die Empfehlung zum operativen Vorgehen direkt aussprechen, ohne an einen anderen Facharzt zum Zweck der Festlegung der OP-Indikation überweisen zu müssen.
Ein weiterer Vorteil des Orthopäden ist die Fähigkeit der ausgedehnten manuellen Diagnostik. Gerade am Bewegungsapparat wird in letzter Zeit die aufwändige Apparatediagnostik mehr und mehr eingesetzt. Nun wissen wir aus der klinischen Erfahrung, aber auch aus entsprechenden Studien, dass nicht jeder Knorpelschaden oder jeder zarte Einriss am Meniskus auch symptomatisch sein muss. Vor allem an der Wirbelsäule klaffen radiologischer Befund und klinische Diagnostik sehr häufig weit auseinander. So werden weniger als 20 % aller Wirbelsäulenbeschwerden durch Bandscheibenpathologien verursacht. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass bei bis zu 80 % aller beschwerdefreien Individuen in der MRT Bandscheibenprotrusionen zu erkennen sind, bei 10 % sogar starke Vertebrostenosen.
Um einen apparativen Befund in der Gesamtschau richtig einordnen zu können, müssen wir unsere Patienten „angreifen“. Die klinische und manuelle Untersuchung ist somit ein wichtiger Diagnosepfeiler. Korrekt eingesetzt, ist die klinische Untersuchung in Kombination mit der Anamnese in den meisten Fällen nicht nur richtungsweisend, sondern oft zur Diagnose ausreichend. Das beginnt bereits bei der exakten Inspektion am Patienten (Prüfung von Gangbild, Deformitäten, Beckenschiefständen, Fußfehlstellungen usw.). Im Falle der Wirbelsäulenuntersuchung müssen auch benachbarte Gelenke (Hüfte, Schulter etc.) fachspezifisch mituntersucht werden; essenziell ist auch eine orthopädisch-neurologische Untersuchung. Danach folgt bei Rückenschmerzen und auch bei allen anderen Beschwerden des Bewegungsapparates die eigentliche Chirodiagnostik nach manualmedizinischen Grundsätzen mit Struktur- und Schmerzpalpation. Nicht nur knöcherne Landmarken werden dabei palpiert, sondern auch Sehnen- und Bandansätze sowie Muskelverspannungen. Am Beispiel der Wirbelsäule wird eine Prüfung der segmentalen Beweglichkeit zur Unterscheidung von Blockierungen und Hypermobilitäten angeschlossen (z. B. Prüfung der segmentalen Flexion, Rotation usw., Federungstests, Springing-Tests, Testungen der Rippenbeweglichkeit, des translatorischen Gleitens und einer atlantodentalen Instabilität). Darüber hinaus stehen für jedes Gelenk unzählige Funktionstests zur Verfügung, die zwar häufig nicht allein für eine Diagnose ausreichend sind, den Ausschluss einiger Pathologien jedoch erleichtern.
Ein klassisches Beispiel: Ein Patient klagt über Knieschmerzen. Ohne entsprechende klinische Untersuchung erfolgt die Zuweisung zur MRT („Da sieht man dann, was Sie haben“), bei der unter anderem eine mediale Meniskusläsion festgestellt wird, und es erfolgt die Überweisung in eine Spitalambulanz zur weiteren operativen Sanierung. Eine genaue klinische Untersuchung hätte aber gezeigt, dass das mediale Kompartiment vollkommen asymptomatisch ist und die Schmerzursache in einer Ansatzentzündung des lateralen Seitenbandes liegt, die mit einfachen Mitteln konservativ zu behandeln gewesen wäre. Im besten Fall haben sich die unbemerkten Bandansatzbeschwerden aufgrund der Schonung nach der Arthroskopie parallel gebessert und dem Operateur wird ewig gedankt. Im schlechtesten Fall ist der Innenmeniskus teilreseziert, die lateralen Beschwerden sind aber immer noch da. Die Vorteile einer exakten klinischen Untersuchung des Bewegungsapparates für Patienten sind somit augenscheinlich.
Unschwer ist daraus zu erkennen, dass eine exakte Struktur- und Funktionsdiagnose eine unabdingbare Voraussetzung für eine adäquate Therapie ist. Eine in der MRT pathologische Bandscheibe kann mehrmals operiert werden, der Patient wird aber trotzdem nicht beschwerdefrei sein, solange sein hypermobiles Iliosakralgelenk rezidivierend blockiert. Die Schmerzfreiheit mag zwar, wie vielfach propagiert, ein Menschenrecht sein, jedoch werden wir unsere Patienten nicht langfristig zufriedenstellen können, wenn wir Schmerzen rein medikamentös dämpfen oder aufgrund eines radiologischen Befundes das eigentlich asymptomatische Wirbelsäulensegment mittels CT-gezielter Infiltration „behandeln“. Natürlich benötigen wir diese Techniken in einigen Indikationen, wie auch eine fächerübergreifende Schmerztherapie bei manchen Patienten notwendig ist, aber der Mehrheit kann durchaus ursachenbezogen durch konservative orthopädische Maßnahmen wie Manualtherapie, Infiltrationstherapie über knöcherne Landmarken etc., aber vor allem durch Sekundärprävention, Sportoptimierung etc., geholfen werden. Voraussetzung ist, dass wir wissen, welche Struktur oder Funktion wir eigentlich behandeln möchten. Ebenso augenscheinlich sind die daraus abzuleitenden Kosteneinsparungen, wenn zur Diagnostik der entsprechenden Beschwerden des Bewegungsapparates nicht gießkannenartig technische Untersuchungen verordnet werden.
Ein weiterer Eckpfeiler der Orthopädie ist die Kinderorthopädie. Die Begleitung von Kindern, von Geburt an während des gesamten Wachstums, stellt ein echtes Kerngebiet des Faches dar. Gerade in Zeiten der Pandemie sollten Routineuntersuchungen nicht vernachlässigt werden. Versäumnisse in diesem Alter haben langfristige, später kaum korrigierbare Schäden zur Folge. Fortschritte in der Diagnostik von Hüftpathologien (Hüftsonografie nach dem österreichischen Orthopäden Prof. Graf) ebenso wie in der Therapie (sowohl konservativ als auch operativ) sind hier zu nennen. Die Überwachung und Therapie des kindlichen Fußes ist tägliches orthopädisches Brot und reicht von Kontrollen bzw. Muskeloptimierung beim physiologischen Knickfuß des Kleinkindes bis zu komplexen Therapien bei Fußdeformitäten wie dem Klumpfuß. Große technische Fortschritte gab es auch in der Therapie von Extremitätendeformitäten. Dazu gehören Extremitätenverlängerungen bei großen Beinlängenunterschieden oder auch Korrekturen von starken Achsabweichungen.
Auch in anderen operativen Teilbereichen der Orthopädie wurden durch Zusammenwirken von Medizin und Industrie dramatische Verbesserungen erreicht. Vor allem in der Endoprothetik konnten durch entsprechende Innovationen die postoperative Funktionalität deutlich verbessert und dadurch die Spitalsaufenthaltstage reduziert werden. Neue Materialien und Endoprothesendesigns in Kombination mit minimalinvasiven Operationstechniken spielen dabei eine große Rolle. Ebenso wurden die Implantationsmethoden immer präziser. Die ohnehin schon niedrigen Komplikationsraten konnten dadurch noch weiter vermindert werden. Nicht zuletzt dadurch stellt die orthopädische Endoprothetik eine der erfolgreichsten Therapiemethoden der Medizin dar.
Aber nicht nur in der Endoprothetik haben diese Innovationen Einzug gehalten. Die Indikationen der arthroskopischen Chirurgie wurden zunehmend erweitert, und für z. B. ausgedehnte Rekonstruktionen am Schultergelenk sind meist nur noch wenige Stichinzisionen von Nöten. Auch im Bereich der rekonstruktiven Kreuzbandchirurgie werden immer wieder Neuerungen eingeführt. Die operative Therapie der instabilen Patella wurde in den letzten
Jahren revolutioniert.
Ebenso wird die Wirbelsäulenchirurgie immer weniger invasiv. Auch hier sind verkürzte Spitalsaufenthalte und schnellere Rekonvaleszenz Zeichen neuer Instrumentierungen und Zugangswege. Natürlich sind auch hochspezialisierte Teilbereiche wie die Tumororthopädie zu würdigen, die Hochleistungen auf dem Gebiet der Extremitäten- oder Wirbelsäulenrekonstruktion bieten. Im Rahmen des orthopädischen Tissue-Engineerings wird der Weg in die Zukunft geebnet. Der Weg mag zwar noch lange sein, aber die „Biochirurgie“ als Kombination von orthopädischer Chirurgie und Labormedizin (z. B. Knorpelzelltransplantationen) hat bereits bei bestimmten Indikationen Einzug in den klinischen Alltag gehalten.
Andere Bereiche wie die rheumachirurgische Orthopädie sind zuletzt zahlenmäßig in die Defensive geraten, nicht zuletzt durch die internistisch-rheumatologischen Therapien, welche deutliche Verbesserungen für die Patienten mit sich brachten. Allerdings ist auch hier die Orthopädie gefordert, das große Wissen um diese operativen Fertigkeiten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, da es auch in Zukunft Patienten geben wird, die nicht auf Biologika ansprechen und somit chirurgisch versorgt werden müssen. Rheumapatienten sind hier das klassische Beispiel für die Notwendigkeit der interdisziplinären Behandlung, der sich Orthopäden bei diesen und auch anderen Krankheitsbildern stellen müssen.