Die Mikrobiomforschung ist noch recht jung, hat aber in den letzten 3 bis 5 Jahren durch die Entwicklung günstiger, schneller und leicht zugänglicher Analysemethoden enorm an Fahrt aufgenommen. Das Mikrobiom bezeichnet die Gesamtheit aller Mikroorganismen (Bakterien, Viren, Protozoen etc.), welche unseren Körper natürlich besiedeln, d. h. üblicherweise zu keiner Krankheitsentwicklung führen. Neue Erkenntnisse setzen die Zahl der im menschlichen Körper lebenden Mikroorganismen mit ca. 30 Billionen fast ebenso hoch an wie die Zahl an Körperzellen (ca. 38 Billionen), wobei die individuelle Zusammensetzung und Anzahl sehr unterschiedlich sein kann und von vielen Faktoren abhängt. Die meisten Mikroorganismen befinden sich mit einem Anteil von 70 % im Gastrointestinaltrakt, vor allem im Bereich des Colons. Dieser Artikel gibt einen Überblick über den derzeitigen Stand der Wissenschaft und stellt sowohl das Potenzial als auch die offenen Fragen dar.
Die Entstehung bzw. der Aufbau des Mikrobioms unterliegt vielen Einflüssen. Als endogener Faktor wird die genetische Prädisposition angesehen, mit der sich eine gewisse Pionierflora etablieren kann. Diese entwickelt sich in der Folge durch Kolonialisierung weiter, die üblicherweise durch exogene Determinanten wie Ernährung, Bewegung, Stress oder Medikation bestimmt wird. Dabei spielen die Gesundheit und das Mikrobiom der Mutter ebenso eine wesentliche Rolle wie die Art der Geburt. So gibt es etwa Evidenz, dass eine vaginale Geburt zu einer größeren Diversität im Mikrobiom des Neugeborenen führt als ein Kaiserschnitt.
Die Aufgabe des Mikrobioms besteht nicht nur darin, die Verstoffwechslung von Nährstoffen zu ermöglichen, es hat zusätzlich wichtige immunmodulatorische Funktionen und ist eng mit Leber, zentralem Nervensystem und Muskulatur vernetzt. Es fördert die Integrität der Darmmukosa und unterstützt Kohlenhydratabbau und Fettsäuresynthese. Eine weitere Aufgabe ist der Schutz vor Pathogenen bzw. Krankheiten durch Produktion von Defensinen und Lektinen.
Zur Dysbalance des Mikrobioms (Dysbiose) kommt es etwa beim Vorliegen chronisch entzündlicher Darmerkrankungen oder bei Einnahme von Medikamenten, oft jedoch auch als Folge eines nachteiligen Lebensstils. Dysbiose äußert sich in einer geringen absoluten Zahl von Mikroorganismen, einer geringen Biodiversität oder in ungünstigen Verhältnissen von Bakterienstämmen zueinander. In diesem Zustand kann die Darmflora ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen, somit steigt das Risiko für Malabsorption, systemische Inflammation und Erkrankungen wie Adipositas, Typ-2-Diabetes, bis hin zu Neoplasien des Gastrointestinaltraktes.
Der Zusammenhang zwischen Lebensstil und Mikrobiom ist unbestritten. Es mehrt sich die Evidenz, dass einseitige, hyperkalorische und ballaststoffarme Ernährungsgewohnheiten sowie mangelnde Bewegung zu einer Reduktion der Diversität des Mikrobioms führen. Bestimmte Lebensmittel und Ernährungsmuster können das Auftreten von Bakterien im Darm zur Folge haben, welche die Gesundheit beeinflussen. Andererseits beeinflusst ein unausgewogenes Mikrobiom das Gewicht ebenso wie die Entstehung von Stoffwechselerkrankungen. Konkret kann das an den bisherigen sehr differenzierten Ergebnissen zum (positiven oder negativen) Einfluss unterschiedlicher Probiotika auf einige Diagnosen illustriert werden. So sind zum Beispiel manche Bifidus- und Laktobazillusarten mit Normalgewicht assoziiert, andere mit Übergewicht. Bei Morbus Crohn ist die Anzahl der Laktobazillusarten im Mikrobiom verringert, während sie bei rheumatoider Arthritis erhöht ist.
Auch Bewegungsgewohnheiten scheinen das Mikrobiom zu beeinflussen. So wurde bei Profisportlern eine höhere Diversität des Mikrobioms festgestellt als bei Personen mit höherem BMI. Ähnliches ergab eine Untersuchung, die eine höhere Diversität in der Gruppe mit regelmäßiger moderater bis intensiver körperlicher Aktivität zeigte, jedoch ohne Korrelation mit dem BMI. Beide Studien berücksichtigten auch die unterschiedlichen Ernährungsweisen von sportlich aktiven und weniger aktiven Personen und schränken daher ein, dass derzeit nicht bekannt ist, ob der Einfluss körperlicher Aktivität unabhängig von den Ernährungsgewohnheiten ist.
Es wird auch ein Zusammenhang zwischen der Diversität des Mikrobioms und der mentalen Gesundheit vermutet. Gesichert ist, dass psychosozialer Stress zu ungünstigem Ernährungsverhalten und Bewegungsmangel führt und dadurch das Mikrobiom beeinflusst. Umgekehrt wird diskutiert, ob das intestinale Mikrobiom Auswirkungen auf die Psyche hat. Die Hypothesen basieren dabei oft auf der Beeinflussung des peripheren Serotoninspiegels. Es werden jedoch auch Prä- und Probiotika mit Depression und Angstzuständen in Verbindung gebracht. Die bisherigen Erkenntnisse lassen noch keine eindeutigen Aussagen zu, ob und wie eine Stärkung des Mikrobioms auch zu einer Stärkung der mentalen Gesundheit beitragen kann. In jedem Fall geht die Forschung davon aus, dass psychische Krankheiten einen negativen Einfluss auf das Mikrobiom haben können.
Die oben besprochene Evidenz könnte für die Zukunft der Gesundheitsförderung und Prävention bedeuten, dass Risikofaktoren genauer identifiziert oder individuellere Therapiemaßnahmen und Lebensstilempfehlungen entwickelt werden könnten. Während derzeit noch zu wenig über die Entstehung und Veränderung des Mikrobioms bekannt ist, um eindeutige Aussagen oder Empfehlungen abzugeben, laufen derzeit viele Forschungsprojekte, die entsprechende Zusammenhänge näher beleuchten. Es ist also zu erwarten, dass unser Verständnis des Mikrobioms in den kommenden Jahren deutlich zunehmen und damit auch das Potenzial dieser Diagnostik in der praktischen Anwendung steigen wird. Mit Sicherheit kann schon jetzt gesagt werden, dass auch das Mikrobiom von einer gesunden und aktiven Lebensweise profitiert. In Zeiten eines neuerlichen Lockdowns und der dunklen Jahreszeit ist es also wichtiger denn je, darauf zu achten, sich ausreichend zu bewegen und sich frisch, abwechslungs- und ballaststoffreich zu ernähren. Das fördert nicht nur die Diversität des Mikrobioms, sondern auch die körperliche und mentale Gesundheit.