Es zeichnet sich ab, dass sich die reichsten Länder Europas eine Verzögerung in der Durchimpfung der Bevölkerung leisten, obwohl es keinerlei Verknappung in der Impfstoffverfügbarkeit gibt. Die wohlhabendsten Länder sind auch jene, deren Grund- und Freiheitsrechte besonders streng interpretiert und aufs Äußerste verteidigt werden.
Heute kämpfen wir damit, dass viele Menschen die Impfung verweigern und sich in der mehrheitlichen Auffassung der solidarischen wie auch moralischen Pflicht entziehen. Leider können wir nicht davon sprechen, dass dieses Phänomen vereinzelt auftritt, vielmehr ist es ein breiter Anteil der Bevölkerung.
Darüber zu philosophieren, ob man ein Recht hat, sich von der Verantwortung zu exkulpieren, erübrigt sich bereits durch die Entschlossenheit der (von einer Mehrheit getragenen) Regierung, die eine Impfpflicht ab 1. 2. 2022 verordnet hat.
„Wer nichts weiß, muss alles glauben“: Das unverrückbare Bild und die Realitätsverweigerung schreien nach Aufklärung, und das bedeutet bei den zu Überzeugenden die Fähigkeit, Skepsis zu entwickeln. Eine der größten Errungenschaften menschlichen Denkens ist die Skepsis. In der griechischen Philosophie ist der ein Skeptiker, der eine Sache von allen Seiten betrachtet und prüft. Denn die Skepsis ist die Basis für das Streben nach Wahrheit und aller Erkenntnis. Skeptisches Denken heißt in Frage stellen, deshalb ist Skepsis anstrengend und wird gerne zu Gunsten eigener Glaubenssatzkonstruktionen aufgegeben. Ständiges Hinterfragen ist die Domäne der Wissenschaft und der Philosophie, die scheinbar unbestechlich nach Wahrheit suchen und geistige Monokultur bekämpfen. Warum sind also gerade die Fahnenträger skeptischen Denkens Opfer der Skeptiker geworden?
Kein Vertrauen in die Politik, kein Vertrauen in die Wissenschaft, kein Vertrauen in die Impfung, aber grenzenloses Vertrauen in die Möglichkeiten der Intensivmedizin? Letztere steht allen offen, allerdings in beschränktem Maße.
So als ob jeder Ungeimpfte für sich selbst vorgesorgt hätte, mit eigenem Arzt, Pflegepersonal und Intensivbett in den eigenen vier Wänden, klinkt er sich aus der Solidargemeinschaft aus und lässt keinen Zweifel daran, dass er sich selbst am nächsten ist. Wenn der Hut brennt, wird jedoch mit einer Selbstverständlichkeit auf gemeinschaftliche Ressourcen zurückgegriffen, die unsere Gesellschaft im Konsens zur Verfügung stellt. Diese unsere Gesellschaft ist so entwickelt, dass sie trotz gemeinschaftlichen Denkens ein Maximum an Grund- und Freiheitsrechten gewährt. Dieser Balanceakt zwischen Individualethik und Sozialethik funktioniert, solange man nicht ins Stolpern kommt. Die Pandemie ist sicherlich ein solcher Stolperstein im demokratischen Verständnis. In einer Demokratie zu leben und demokratisch zu leben sind offenbar unterschiedliche Weisen des Lebens. Der Unterschied ist die Pflicht, die von vielen Menschen nicht gerne gelebt wird. Es ist eine Pflicht, so zu handeln, dass das Wohl anderer nicht gefährdet wird.
Ist „Vollkaskomedizin“ die Selbstverständlichkeit eines Intensivbettes für „alle“? Wie ist so eine Fehleinschätzung möglich? Wieso setzen manche Menschen auf die unsicherste Karte? Ein belegtes Intensivbett ist kein verfügbares Intensivbett. „First come first serve“ klingt zwar gerecht, ist aber für dort arbeitendes Personal ein burnoutförderndes Drama. Auf Intensivstationen wird, wie wir Ärzte nachvollziehen können, unmenschlich viel gearbeitet und jeder Standard erfüllt, allerdings mit beschränktem Zugang. Wir kennen die grafischen Darstellungen der Auslastung und das bedrohliche Szenario einer Triagesituation. Es ist realistischerweise gut möglich, dass ein Ungeimpfter sein Leben lassen muss, und genauso realistisch ist es, dass durch die Verknappung spezifischer Ressourcen das Überleben anderer verhindert wird.
Mit kollegialen Grüßen, Dr. Michael Elnekheli
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