Im Rahmen der zweiten philosophischen Wanderung im September 2021 in den oststeirischen Weinbergen westlich von Hartberg haben sich die Mitglieder der ÖGPAM (Österreichische Gesellschaft für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin in der Allgemeinmedizin) anhand von fünf Impulsreferaten über das Thema „Veränderung und Beständigkeit“ ausgetauscht.
Nicht zuletzt hat die laufende Pandemie diese Stichworte gebracht, hat sie uns selbst und unsere Gesellschaft doch gravierend verändert. Wie wir arbeiten, kommunizieren und konsumieren, hat sich grundlegend gewandelt – sowohl zum Guten als auch zum Schlechten. Manche Änderungen wurden aufgezwungen, manche waren schon längst fällig und wurden nun beschleunigt. Seit Jahrhunderten verändern Seuchen unsere Gesellschaft und verursachen als „Nebeneffekt“ innovative Maßnahmen, die dann Bestand haben. Als Beispiel sei die Cholera-Epidemie im 19. Jhdt. erwähnt, die Wien gutes Trinkwasser, Müllabfuhr und Kanalisation gebracht hat. Die positiven Veränderungen stehen allerdings dem Leid und den Schicksalsschlägen der Einzelnen gegenüber.
Was hat sich bei uns Ärztinnen und Ärzten unabhängig von der täglichen Arbeit verändert? Ist unser bewusstes und unbewusstes Selbst, zwischen Anforderungen der Umwelt und geplanter bzw. erhoffter Selbstverwirklichung in Gefahr? Wie viel Desorientierung, wie viel Sinnkrise, wie viel Zweifel an dem, was man bisher als sinnvoll erachtet hat, haben sich im Rahmen der Pandemie eingestellt? Haben wir genügend psychohygienische Routinen für unseren ärztlichen Alltag und für unser nichtärztliches Leben zur Verfügung?
Mein persönlicher Beitrag bei der Wanderung im September war ein Impuls über Veränderung und Kontinuität am Beispiel des mittelalterlichen Mythos „Anna selbdritt“: Dieser bietet die drei großen Lebensabschnitte Kind, Erwachsener und alter Mensch in Form von drei Personen an, die im Bild oder in der Skulptur gleichzeitig dargestellt und als Einheit erfahren werden. Vielfalt in der Einheit ist die Botschaft, wie in Eric Bernes „Transaktionsanalyse“.
Berne hat Muster von Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen beschrieben, die sich zwar mit dem Lebensalter verändern, die uns aber als Ich-Zustände durchs ganze Leben begleiten. Die zur aktuellen Altersstufe passenden bestimmen zwar vorrangig unser Denken und Fühlen, die anderen Ich-Zustände gehen jedoch nie ganz verloren bzw. schwingen weiter mit. Eric Berne schreibt vom Kindheits-Ich, wenn Kindheitserleben aktuelle Reaktionen dominiert, vom Erwachsenen-Ich, wenn vorwiegend im Hier und Jetzt agiert wird, vom Eltern-Ich, wenn eine Kategorie, die von Eltern oder anderen übernommen wurde, das aktuelle Verhalten bestimmt. Die gleichzeitige Präsenz der Ich-Zustände in jedem Lebensalter schafft einen emotionalen Kompromiss bei unseren Entscheidungen und Handlungen. Diese funktional-emotionale Grundlage erweist sich durch die Belastungen der Pandemie bei vielen Menschen als nicht mehr tragfähig und braucht Veränderung, Anpassung. Bei manchen ist das Kindheits-Ich mit Angst, magischen Vorstellungen und rebellischem Trotz wieder stärker in den Vordergrund getreten, bei manchen das Eltern-Ich mit kritisch-autoritärem Verhalten. Sich der emotionalen Krise über die drei Ich-Zustände zu nähern, könnte ein Weg von vielen sein, wie wir unverständliche Reaktionen bei uns selbst und den Menschen unserer Umgebung besser einordnen und ertragen können.
Die Achtsamkeit auf unser Selbst als Ärztinnen, Ärzte, auf unsere Arbeitsbedingungen, auf die Belastbarkeit, auf die Sinngebung ist mehr als je zuvor notwendig. Das Gesundheitssystem insgesamt braucht in diesem Sinn auch Veränderung, damit die erwünschte Beständigkeit für die Gesellschaft weiterhin mit guter Qualität zur Verfügung steht.