„Bürokratie ausmisten“

Was wollen Sie für die Ärzteschaft konkret bis Jahresende erreichen?

Johannes Steinhart: Zunächst geht es darum, die neue Koalition innerhalb der Ärztekammer optimal arbeitsfähig zu machen. Politisch ist entscheidend, dass wir den Pfad der Kostendämpfung verlassen und auf eine ordentliche Finanzierung im Gesundheitssystem achten. Ein weiteres Thema, das uns beschäftigt, ist die Debatte um Wahlärzt:innen und die damit verbundene Diskussion um etwaige Zwangsverpflichtungen, die wir bestimmt nicht akzeptieren. Darüber hinaus gibt es das Thema weiterer Verhandlungen mit der ÖGK sowie den neuen österreichweiten Leistungskatalog, über den wir auf jeden Fall noch detaillierter sprechen wollen.

„Das Ministerium lässt uns bis jetzt beim Facharzt für Allgemeinmedizin leider in der Luft hängen.“

 

Was konkret braucht es, damit es mehr niedergelassene Allgemeinmediziner:innen mit Kassenvertrag gibt?

Unsere diesbezüglichen Forderungen sind der Politik und den Krankenkassen seit Jahren bekannt. Flexible Vertragsgestaltungen wären hier wichtig. Da haben wir schon gewisse Schritte gesetzt, aber man könnte noch mehr machen, um die Berufsausübung mit dem Familienleben zu vereinbaren. Ein weiterer Punkt ist eine zu ausgeprägte Bürokratie. Hier muss man deutlich ausmisten, damit nicht jeder Behandlungsschritt in einer ausschweifenden Dokumentation endet. Das ist speziell in der Allgemeinmedizin katastrophal viel.

Die bestehenden Verträge wurden aber von Ihnen mitverhandelt? Haben Sie sich da bisher nicht durchgesetzt?

Wir weisen die Politik und die Kassen seit fast 20 Jahren darauf hin, dass eine Pensionierungswelle und mit ihr ein Ärztemangel auf uns zukommt. Die Politik hat aber schon vor 20 Jahren begonnen, einen unglückseligen und unkonstruktiven Einsparungsweg einzuschlagen, den nannte man damals Dämpfungspfad. Dadurch haben wir jetzt ein kaputtgespartes System vor uns. Es wäre notwendig, hier Investments zu setzen. Gerade in der Pandemie haben wir gesehen, wie wichtig es wäre, in das Gesundheitssystem zu investieren und die Versorgungsqualität aufrechtzuerhalten.

In Wien haben Sie noch vor der Kassenfusion ein breites Paket für den niedergelassenen Bereich ausverhandelt. Jetzt diskutieren wir dennoch über offene Stellen – hat das Paket nicht gewirkt?

Das Paket war goldrichtig, nur kaum war das Paket fertig, ist die Pandemie gekommen. Dadurch ist die Transparenz der deutlichen Steigerung verloren gegangen, weil wir damals beschlossen haben, dass wir die Ordinationen nur für Notfälle zur Verfügung halten. Jetzt kommen wir erst langsam wieder in den Normalbetrieb. Dadurch ist das Plus, das wir verhandelt hätten, nicht transparent zum Tragen gekommen, aber es hat immerhin die Defizite gemindert. Sobald wir einen vollen Normalbetrieb haben, wird das deutlich merkbar werden.

Die sozialen Krankenversicherungen erwarten kumuliert bis 2026 Verluste von 1,6 Milliarden Euro. Ist das nur eine Drohkulisse oder ist die Kassenzusammenlegung von ÖVP und FPÖ gescheitert?

Ob die Kassenzusammenlegung so glücklich war, muss man sich auf Dauer ansehen. Momentan hat man den Eindruck, dass sie primär mit sich selbst beschäftigt sind, damit sie die Struktur bewältigen. Wenn tatsächlich ein 1,6-Milliarden-Euro-Defizit kalkuliert wird, dann werden uns in dem System bald drei Milliarden Euro fehlen. Die von Ex-Kanzler Kurz angekündigte Patientenmilliarde ist nach wie vor ausständig, die ist also noch in keinem Defizit dabei.

Rechnen Sie damit, dass es zu einem Spardruck kommen wird?

Für mich ist klar: Entweder sie wollen eine Versorgung oder sie wollen keine Versorgung. Man kann nicht immer alles auf den Leistungserbringer abwälzen. Hier muss man sich um eine Finanzierung kümmern.

Sollte der Beitragssatz in der der sozialen Krankenversicherung erhöht oder eine Vermögenssteuer eingeführt werden?

Ich glaube, es ist noch zu früh, um an der Steuer- oder der Beitragsschraube zu drehen. Gäbe es eine ordentliche Führung und Verwaltung, würde sich das schon gut rechnen. Da ist noch viel Luft nach oben, bevor man hier Beiträge verändern müsste.

3,4 Millionen Menschen haben eine private Krankenversicherung. Dort sind zuletzt die Prämien um 4 % gestiegen, die Leistungen um 3,9 % gesunken.

Darum ist es wichtig, dass wir nach wie vor eine solidarische Finanzierung für unsere Krankenkassensysteme haben. Tritt der Fall ein, dass jemand wirklich krank ist, können sich sehr viele eine private Versorgung nicht leisten. Hier ist Solidarität wichtig. Im Privatbereich sieht man, dass trotz Pandemie – darauf führe ich den Rückgang der Leistungen zurück – die Prämien erhöht werden, um entsprechende Gewinnsituationen des Betreibers zu erreichen. Dies ist für mich ein klassisches Beispiel, an dem man sieht, wo es hinführt, wenn man die Gesundheitsversorgung privat betreibt und wenn große Konzerne mit merkantilen Interessen dahinterstehen.

In der Diskussion um ein öffentliches Gesundheitssystem hat man den Eindruck, dass die Ärztekammer den Wahlärztinnen und Wahlärzten auch die Stange hält. Man hört weniger den Ruf nach einem öffentlichen System.

Die Debatte wurde von ÖGK-Obmann Huss ausgelöst. Es ist klar, dass wir für das solidarische und öffentliche Gesundheitssystem und auch für Kassenärztinnen und -ärzte eintreten. Den Wahlärz:tinnen die Schuld am Nichtfunktionieren des Kassensystems zuzuschieben halte ich für verfehlt und undankbar. Wir haben schon vor über einem Jahrzehnt gesagt: wir brauchen 1000 bis 1400 Ordinationen mehr in Österreich. Wenn bestimmte Wünsche der Auslagerung aus dem stationären Bereich im niedergelassenen Bereich wahrgenommen werden sollen, dann brauchen wir mehr Ordinationen. Von diesen 1000 bis 1400 Ordinationen mehr kommen allein 300 auf Wien. Wenn Herr Huss das anbietet, dann schreiben wir sofort aus. Und ich hätte gern noch etliche Ordinationen mehr im Bereich der Kinderpsychiatrie in Wien – hier gibt es ein katastrophales Versorgungsversagen.

Wie sieht es beim Thema Facharzt für Allgemeinmedizin aus?

Da gibt es große Bemühungen unsererseits, das umzusetzen. Aber wir scheitern bis jetzt an den Tiefen des Gesundheitsministeriums. Wir haben alle geforderten Aspekte bearbeitet, es ist alles in Ordnung. Das Ministerium lässt uns bis jetzt aber leider in der Luft hängen.

Wie versorgungswirksam sind Wahlärzt:innen?

Sie haben eine große Bedeutung und sind inzwischen eine Stütze der bestehenden Versorgung. Ich glaube, dass dort eine gute Leistung erbracht wird und dass das eine gute Ergänzung zu den bestehenden Kassenverträgen ist. Aufgrund der deutlicher werdenden Pensionierungen, auf die wir schon immer hingewiesen haben, braucht es aber natürlich eine Attraktivierung des Kassenbereichs.

Vielen Dank für das Gespräch!