Interview

Dynamische Diabetologie

ARZT & PRAXIS: Statt der „klassischen“ Einteilung in Typ-1- und Typ-2-Diabetes wird nun die Klassifizierung in fünf Diabetes-Endotypen diskutiert. Welche Vorteile wären damit verbunden und kann man bereits absehen, ob sich diese Neueinteilung durchsetzen wird?

Univ.-Prof. Dr. Harald Sourij: Dies ist sicher ein spannender Ansatz, um personalisierte Medizin in der Diabetologie voranzutreiben. Vor einigen Jahren hat man in einer Cluster-Analyse einer finnischen Forschergruppe fünf Diabetes-Cluster identifiziert. Eine dieser Gruppen ähnelt stark dem aktuellen Diabetes Typ 1 und darüber hinaus gibt es vier weitere Gruppen, die eine Aufteilung der jetzigen Typ-2-Diabetes-Patient:innen darstellen. Basis ist eine Palette an Parametern, die mehr oder weniger gut in der klinischen Praxis verfügbar sind.
Hier stehen wir aber gleichzeitig vor dem ersten Problem bei dieser Neueinteilung: Die Messung der Insulinresistenz und der Betazell-Sekretion erfolgt anhand des HOMA(Homeostasis Model Assessment; Anm.)-Index, der eine Insulinmessung voraussetzt. Das ist in Studien kein Problem, da dort die Messungen einheitlich erfolgen; in der Routine sind Insulinmessungen aber international noch nicht standardisiert, was die Bereitstellung von Cut-off-Werten erschwert. Darüber hinaus ist bei diesen Clustern bekannt, dass es unter ihnen solche gibt, bei denen es häufiger zu Netzhautschäden oder Nierenkomplikationen kommt, und andere, die häufiger mit kardiovaskulären Erkrankungen oder mit der Fettlebererkrankung einhergehen.
Das Wichtigste wäre allerdings zu wissen, was diese Umstände für die Therapie bedeuten, also: Welche Medikamente sind für welchen Cluster optimal? Und hier fehlen uns schlicht noch viele Daten. Deswegen hat diese versuchte Neuklassifizierung noch keinen Eingang in die klinische Praxis gefunden, wenngleich sie akademisch bzw. wissenschaftlich interessant ist. Wir sind aber noch ein gutes Stück davon entfernt, dass sie uns in der täglichen Arbeit wirklich weiterhelfen könnte.

Welchen Stellenwert hat die Insulintherapie aktuell beim Typ-2-Diabetes?

Durch die Verfügbarkeit neuer Substanzklassen hat die Insulintherapie beim Typ-2-Diabetes in den letzten 15–20 Jahren sicherlich insofern an Stellenwert verloren, als sie in der Therapie weiter nach hinten verschoben wurde. Wenn die Betazell-Funktion – sprich, die Sekretionsleistung – bei Patient:innen mit Typ-2-Diabetes zurückgeht, ist Insulin klarerweise nach wie vor die Substanz der Wahl. Das ist insbesondere bei langer Erkrankungsdauer der Fall. Orale Substanzen und GLP-1-Rezeptor-Agonisten, von denen wir auch wissen, dass sie zusätzlich positive Effekte auf das Herz-Kreislauf-System oder die Nierenfunktion besitzen, haben den Beginn der Insulintherapie aber deutlich nach hinten verschoben.

Die SGLT-2-Inhibitoren sind nun Teil der Erstlinientherapie bei Herzinsuffizienz. Sind weitere Indikationserweiterungen zu erwarten und gibt es darüber hinaus Antidiabetika, die in anderen Indikationen künftig Verwendung finden könnten?

Als künftiges Anwendungsgebiet für die SGLT-2-Inhibitoren ist sicherlich die chronische Niereninsuffizienz zu nennen. Die ganze Palette der GLP-1-Rezeptor-Agonisten bzw. deren Nachfolger, insbesondere Dual-Agonisten oder die Kombination von GLP-1- mit Amylin-Agonisten, werden aktuell in mehreren Studien zu Adipositas ohne Diabetes oder bei der Fettlebererkrankung untersucht, vor allem, weil sie zu einer deutlichen Gewichtsreduktion führen.

Sie haben die dualen GLP-1-Agonisten angesprochen, deren EU-Zulassung noch heuer erwartet wird. Was unterscheidet diese von den reinen GLP-1-Rezeptor-Agonisten und was ist die Rationale für ihren Einsatz?

Der große Unterschied liegt in der Effizienz dieser Substanzen. Wir sprechen hier in erster Linie von GIP(glukose-abhängiges insulinotropes Peptid; Anm.)/GLP-1-Agonisten, die vor der Zulassung stehen und in Studien gezeigt haben, dass sie einerseits in der Blutzuckersenkung effizienter sind und andererseits deutlich stärkere gewichtsreduzierende Effekte aufweisen, als dies bisher von GLP-1-Agonisten bekannt ist. Gemeinsam sind den beiden Wirkstoffklassen die Nebenwirkungen: Beide führen zu gastrointestinalen Nebenwirkungen, in erster Linie zu Übelkeit. Insgesamt stellen sie künftig sicherlich eine attraktive Therapieoption dar, gerade bei adipösen Patient:innen.

Ende letzten Jahres wurde mit der Erstattung des HbA1c-Screenings eine zentrale Forderung der ÖDG erfüllt. Welchen Benefit darf man dadurch erwarten?

Prinzipiell wissen wir, dass eine rechtzeitige Diagnose die Therapie und vor allem den Therapieerfolg stark mitbestimmt. Es gibt genug Datensätze, die zeigen, dass ein verzögerter Therapiebeginn langfristig mit einem erhöhten Komplikationsrisiko verbunden ist und ein Versäumnis darstellt, das auch unter optimaler Therapie nicht mehr nachgeholt werden kann. Aus diesem Grund ist eine frühe Diagnose wichtig und den Leitlinien entsprechend gibt es dafür drei Optionen: den Nüchternblutzucker, den oralen Glukosetoleranztest (oGTT) und den HbA1c-Wert. Wir wissen, dass der oGTT in der Praxis nicht sehr oft durchgeführt wird und der Nüchternblutzucker, wie der Name schon sagt, stark nahrungsabhängig ist, weshalb er oft nur bedingt verwertbar ist. Der von der Nahrungsaufnahme unabhängige und stabilere HbA1c-Wert ist deshalb für die Frühdiagnose eines Diabetes mellitus wertvoll. Das bedeutet nicht, dass man ihn wahllos bei jeder Patientin bzw. jedem Patienten bestimmen sollte, sondern es geht darum, definierte Risikogruppen zu screenen, wie sie auch in den Leitlinien definiert sind.

Hätten Sie noch ein Anliegen, das Sie gerne thematisieren würden?

In den nächsten Jahren müssen wir sicherlich daran arbeiten, dass Forschungsdaten und wissenschaftliche Ergebnisse eine höhere Akzeptanz erfahren. In den letzten Jahren haben wir leider gesehen, dass Österreich nicht sonderlich „wissenschaftsfreundlich“ ist und auch fundierte wissenschaftliche Ergebnisse häufig angezweifelt werden.

Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?

Was mir natürlich in erster Linie einfällt, ist alles, was mit dem Thema COVID-19 in Zusammenhang steht. In einigen Bereichen wurde weniger rational und datengetrieben, sondern vielmehr basierend auf Emotionen und persönlichen Erfahrungen entschieden – auf mehreren Ebenen. Ich denke, wir müssen alle daran arbeiten, dass das, was in wissenschaftlichen Studien erarbeitet wird, auch breitere Akzeptanz erfährt. Dazu zählt auch, mehr Verständnis dafür zu entwickeln, dass Wissenschaft notwendig ist, um medizinischen Fortschritt zu bewirken. Es muss mehr Aufklärung stattfinden, was Forschung bedeutet und wie klinische Forschung passiert.
Es ist mir auch ein Anliegen, Versorgungsstrukturen so weiterzuentwickeln, dass sie uns eine bessere Versorgung von Menschen mit Diabetes erlauben. Denn im Moment sehen wir hier eine gewisse Diskrepanz zwischen der klassischen Primärversorgung und den spezialisierten Zentren. Die etwa 800.000 Personen mit Diabetes in Österreich können nicht alle in Zentren versorgt werden.
Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einer stärkeren zweiten Ebene der Diabetesversorgung, wo spezialisierte Allgemeinmediziner:innen oder Internist:innen mit großem Interesse an Diabetes bzw. an der metabolischen Medizin insgesamt – denn es geht um mehr als die reine Blutzuckersenkung – bei komplizierten Fällen eine Erstanlaufstelle darstellen. Im Bereich dieser Versorgungsstruktur haben wir in Österreich noch deutlichen Aufholbedarf und damit einen Arbeitsauftrag.

Vielen Dank für das Gespräch!