Wenn die KI den Patientenbrief schreibt

Spitalsärzt:innen verbringen viel Zeit mit dem Verfassen von Patientenbriefen* – Zeit, die für die Betreuung der Patient:innen fehlt. Die KI-Anwendung „Arztbriefgenerator“ des Fraunhofer-Instituts für Intelligente Analyse- und Informationssysteme IAIS soll hier Abhilfe schaffen.

Eine Patientin, nennen wir sie Frau Glück, kommt mit der Rettung in die Ambulanz einer allgemeinchirurgischen Abteilung. Sie hat seit gestern krampfartige Schmerzen im rechten Oberbauch. Nach einer Blutabnahme und einem Bauchultraschall steht fest, dass sich Fr. Glück von ihrer Gallenblase verabschieden muss. Sie wird noch in derselben Nacht vom diensthabenden Ärzteteam laparoskopisch cholezystektomiert. Alles läuft bestens, und nach einem recht ereignisarmen, aber von der Pflege bestens gemanagten Tag auf der Station sitzt Fr. Glück am zweiten postoperativen Tag mit nun wieder rosigen Wangen und gepackter Tasche am Rand ihres Bettes und möchte gerne nachhause gehen. Die letzten zwei Tage kommen ihr vor wie die Reise in einem sehr modernen unglaublich schnellen Zug, weshalb sie einigermaßen überrascht ist, dass in den nächsten sechs Stunden nichts weitergeht. Der Grund: Fr. Glücks Superzug parkt in der Arztbrief-Remise. Ihr Operateur, der mittlerweile wieder im Dienst ist, und all seine Kolleg:innen gehen nämlich ihrer zentralen Tätigkeit nach – dem Operieren, und niemand hat Zeit, alle klinisch relevanten Befunde und Ereignisse in einem Arztbrief zusammenzufassen und das Ganze auch noch als Epikrise in narrativer Form zu verdichten. Irgendwann wird sich schließlich ein Mitglied des Ärzteteams der Sache annehmen und in die Tasten hauen und schließlich Fr. Glück das Kuvert mit dem Patientenbrief aushändigen, den vor allem ihr Hausarzt mit großem Interesse lesen wird.


„Pro Tag sind Spitalsärzt:innen etwa drei bis vier Stunden nur mit dem Verfassen von Arztbriefen beschäftigt.“

Dario Antweiler
Fraunhofer Institut IAIS


Wenn wir die Geschichte von Fr. Glück mit den vielen hunderttausenden stationär betreuten Patientenfällen in den österreichischen Spitälern multiplizieren, erhalten wir viele hunderttausende Stunden Lebenszeit, die unnötigerweise auf der Kante eines Spitalsbettes versessen werden, aber vor allem viele hunderttausende Stunden des In-die-Tasten-Hauens, in denen sich Ärzt:innen nicht um ihre Patient:innen kümmern können.

Entlastung durch KI

Damit sich das in Zukunft ändert, entwickelt das Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme IAIS in Sankt Augustin den sogenannten Arztbriefgenerator. Basierend auf einer Kombination aus klassischem Algorithmus und künstlicher Intelligenz (KI) ist das Tool in der Lage, solches Dokument im Bruchteil der Zeit zu erstellen, die ein:e Ärzt:in dafür benötigen würde. „Rund 150 Millionen Arztbriefe werden pro Jahr in Deutschland geschrieben“, sagt Dario Antweiler, Teamleiter Healthcare Analytics am Fraunhofer IAIS. „Pro Tag sind Spitalsärzt:innen etwa drei bis vier Stunden nur mit dem Verfassen von Arztbriefen beschäftigt.“ Antweiler will mit seinem Team überall dort unterstützen, wo Gesundheitsdaten entstehen und wo Entscheidungen getroffen werden. Im Rahmen eines auf fünf Jahre angesetzten Forschungsprojektes** werden in enger Zusammenarbeit mit dem in der Digitalisierung sehr fortschrittlichen Universitätsklinikum Essen verschiedene Anwendungsfälle von künstlicher Intelligenz im Krankenhaus entwickelt und in ihren Auswirkungen auf das Personal und die Gesamtorganisation evaluiert.

Was den positiven Impact neuer Softwaresysteme auf den eigenen Workflow betrifft, sind österreichische Ärzt:innen – vorsichtig formuliert – eher skeptisch. Zu häufig mussten hoffnungsvoll gestartete Pilotprojekte bereits nach kurzer Zeit wieder gestoppt werden, weil die Bedienung der Programme erheblich von den Bedürfnissen und Arbeitsumständen des medizinischen und pflegerischen Personals abwich. Für Dr. Harald Mayer, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und selbst als Unfallchirurg tätig, klingt die Vision eines Arztbriefgenerators deshalb fast zu gut, um wahr zu sein: „Bisher schaffen die Systeme in den meisten Fällen mehr Arbeit, als sie einsparen.“ Aber er hält deutlich fest: „Alles, was uns hilft, mehr Zeit bei Patient:innen zu verbringen, ist mir willkommen – vorausgesetzt, dass es tatsächlich funktioniert und sicher ist.“

Texterstellung auf Knopfdruck

Zwei Kernfunktionen sind es, die den Arztbriefgenerator laut Antweiler auszeichnen. Er sei einerseits in der Lage, Informationen aus mehr oder weniger strukturierten Dokumenten zu extrahieren, und andererseits kann er aus den zur Verfügung stehenden Informationen einen natürlich klingenden Text generieren. Als Goodie für die Patient:innen enthält der Brief zusätzlich leicht verständliche Erklärungen, die den in Fachsprache verfassten Haupttext ergänzen. Technologisch entspricht der für die Texterstellung zuständige Teil der Anwendung einem sogenannten Large Language Model, wie es auch der zu rascher Berühmtheit gekommene Chatbot ChatGPT ist. Dieser funktioniere zwar grundsätzlich bereits sehr gut, es ermangle ihm aber teilweise an der Faktentreue, so Antweiler. „Derzeit arbeiten wir daran, den Arztbriefgenerator, der auf einer vortrainierten Open-Source-Software beruht, in einem laufenden Feintuning so zuverlässig wie möglich zu machen.“ Was den künftig möglichen Workflow betrifft, so betont man am Fraunhofer IAIS, dass die von der Software erstellten Texte natürlich erst von einem/einer Ärzt:in geprüft werden müssen, bevor der eigentliche Brief auf Knopfdruck erstellt werden kann. Auch hier heißt die Zauberformel also nicht „Maschine statt Mensch“, sondern „Mensch mit Maschine“.

Kein Roboter mit Schreibhemmung, sondern eine KI-Software: der Arztbriefgenerator

Lernen von den Besten erhöht die Qualität

Für Dr. Heinz Ebner, Geschäftsführer von BDO Health Care und als langjähriger Berater im Gesundheitswesen bestens mit den Prozessen im Spital vertraut, hat die KI-unterstützte Erstellung von Arztbriefen das Potenzial eines echten Game-Changers. „Gerade bei komplexen Krankengeschichten stellt die Aufbereitung von unstrukturierten Daten und die daraus abgeleitete Zusammenfassung eine enorme Entlastung dar“, so Ebner. Neben der Zeitersparnis sieht der Experte aber auch mögliche Qualitätseffekte durch solche Anwendungen. „Da die KI von den Besten, in diesem Fall von den besten Arztbriefschreiber:innen, lernen kann, könnten damit auch Verbesserungen in der inhaltlichen Darstellung in Bezug auf Vollständigkeit, Strukturierung und Duktus sowie in der Art der Kommunikation in Bezug auf Verständlichkeit, persönliche Ansprache und empathischen Ausdruck einhergehen“, so Ebner. Voraussetzung dafür sei aber das Training der KI, denn diese sei immer nur so gut, wie sie trainiert wird. Ob solch ein System es jedoch tatsächlich in die klinische Routine schafft, liege auch an der Art der Integration in den Workflow, betont der Experte: „Entscheidend an diesem KI-Einsatz-Beispiel wird sein, wie stimmig die Rollenverteilung und damit die Zusammenarbeit zwischen KI und Ärzt:innen gelingt.“

Eintrittsbarriere für Big Tech

Anteweiler und seine Kolleg:innen vom Fraunhofer IAIS sind jedenfalls zuversichtlich, dass sich der Arztbriefgenerator, der 2024 als Prototyp in der Universitätsmedizin Essen getestet werden wird, einer hohen Nachfrage erfreuen wird. Schließlich lasse sich dieser Anwendungsfall von künstlicher Intelligenz besonders einfach erklären. „Jede:r versteht unmittelbar, was das Erstellen von Arztbriefen für eine Arbeit ist und dass Menschen, die zehn Jahre medizinische Ausbildung hinter sich haben, keine Lust haben, ihre Zeit damit zu verbringen.“ Was die Konkurrenz von den Big-Tech-Unternehmen, wie Amazon, Google und Microsoft, die mit ihren KI-Anwendungen massiv in den Gesundheitssektor drängen, betrifft, zeigt man sich bei Fraunhofer gelassen. Schließlich gebe es in Europa erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Gesundheitssystemen, und die Anpassung der Softwaresysteme für die verschiedenen nationalen Märkte und Rahmenbedingungen mache die Sache für die Big-Tech-Unternehmen eher unattraktiv. „Wir gehen zudem davon aus, dass Ärzt:innen ein größeres Vertrauen haben, wenn sie Fraunhofer hören, als wenn Google oder Apple der Anbieter ist“, betont Antweiler.