Bei der Sichelzellkrankheit wird durch eine Störung der Hämoglobinkettensynthese anstelle von adultem Hämoglobin (HbA) Sichelzell-Hämoglobin (HbS) gebildet, in weiterer Folge kommt es zur Ausbildung der Erythrozyten in Sichelform.
Damit unterscheidet sich die SCD von der Thalassämie, bei der zwar intaktes Hämoglobin, dieses allerdings in zu geringer Menge gebildet wird. Die biologisch veränderten Eigenschaften der Sichelzellen führen zum einen zu einer chronischen intravaskulären Hämolyse und zum anderen zu Verschlüssen von kleinen Blutgefäßen z. B. durch Leukozyten- und Thrombozytenaktivierung. Die daraus resultierende Gewebshypoxie und lokale Inflammation führen zu akuten Schmerzkrisen (vasooklusive Krisen, VOC), später zu chronischen Schmerzen und progressiven Multiorganschäden. Die äußerst komplexen pathophysiologischen Prozesse eröffnen ein großes Potenzial für eine Vielzahl an therapeutischen Strategien.
Die SCD ist eine multisystemische, qualitative Hämoglobinopathie (nicht die Anämie steht im Vordergrund, sondern die abnormen Eigenschaften – verminderte Löslichkeit – des Hämoglobins) mit diversen Organmanifestationen. Da bei Geburt noch hohe Spiegel an fetalem Hämoglobin (HbF) vorliegen und die Erkrankung erst mit der Expression des permanenten Hämoglobins (HbA, unterscheidet sich vom HbF durch Ersatz der γ-Globine durch β-Globine) auftritt, manifestieren sich Erkrankungen, die durch Pathologien im β-Globin verursacht sind (SCD und β-Thalassämie), erst im ersten Lebensjahr (meist ~3. Lebensmonat). Der klinische Phänotyp ist jedoch variabel und kann durch genetische (bestimmte Mutationen), aber auch nichtgenetische Faktoren (Wetter, Luftqualität, ökonomischer Status, Begleiterkrankungen) beeinflusst werden.
Charakteristisch ist auch, dass unterschiedliche Komplikationen gehäuft in bestimmten Lebensphasen auftreten. Besonders gefährlich für Kleinkinder ist die sehr früh bestehende funktionelle Asplenie durch Autosplenektomie, wodurch eine erhöhte Infektionsgefahr durch bekapselte Erreger besteht. Zu weiteren Notfällen gehören neben der Milzsequestration („Versacken“ von Blut in der Milz) die aplastische Krise, ausgelöst durch eine Infektion mit Parvovirus B19. Ebenfalls fulminant kann das akute Thorax-Syndrom verlaufen, das meist auf eine VOC folgt. Neurologische Symptome müssen bei diesen Patient:innen sehr ernst genommen werden: Ungefähr 11 % der Patient:innen mit Sichelzellerkrankung erleiden ohne Vorsorge bis zum 20. Lebensjahr einen Schlaganfall. Aufgrund der Komplexitiät der Erkrankung sollten die Patient:innen in hämatologischen Zentren versorgt werden.
Neben der Therapie mit Hydroxyurea, die allen Sichelzellpatient:innen empfohlen werden soll, weil es nachweislich die Morbidität und Mortalität verringert, sind chronische Austauschtransfusionen eine hocheffektive Therapie für Patient:innen mit schwerem Verlauf unter Hydroxyurea. Um eine gefährliche Alloimmunisierung (besonders häufig bei SCD) zu verhindern, erfolgt im St. Anna Kinderspital bei allen Patient:innen eine Blutgruppengenotypiserung und Bereitstellung von Erythrozytenkonzentraten mit der geringsten Immunisierungswahrscheinlichkeit. Eine kurative Therapie ist die hämatopoietische Stammzelltransplantation (HSZT) von HLA-identen Spender:innen. Die Verfügbarkeit von HLA-identen Spender:innen für SCD-Patient:innen ist in Europa jedoch beschränkt. Aktuell wurde eine HSZT bei ~20 % der Kinder und Jugendlichen in Österreich mit SCD durchgeführt, das Gesamtüberleben lag bei 100 %.
2020 wurde mit Crizanlizumab die erste Therapie neben Hydroxyurea zur Behandlung von SCD für Patient:innen ab 16 Jahren in Europa vorläufig zugelassen. Dieser monoklonale Antikörper blockiert das auf der Oberfläche von Gefäßendothelzellen liegende Adhäsionsmolekül P-Selektin. Eine Phase-III-Studie konnte eine zuvor festgestellte Überlegenheit für Crizanlizumab (monatliche Gabe) hinsichtlich VOC-Reduktion gegenüber Placebo jedoch nicht bestätigen.
Mit Volexetor, einem Stabilisator des oxygenierten Hämoglobin-Zustands, wurde eine weitere Therapie für Patient:innen über 12 Jahre zugelassen. In einer Phase-III-Studie zeigte sich eine Verbesserung der Hämolyseparamter sowie ein Hb-Anstieg, allerdings keine Verringerung der Frequenz von VOC. Ob eine Kombination mit Hydroxyurea den Krankheitsverlauf verändert, bleibt abzuwarten. Zusätzlich ist unklar, ob durch diese neuen Therapien die Gefäßschäden und Organpathologien, welche die Lebenszeit der Betroffenen verkürzen, verhindert werden können.
Gentherapien, „Genediting“:
Die größten Hoffnungen werden derzeit in die Gentherapie und „Genediting“ gesetzt, die darauf fokusieren, entweder a) die Bildung von fehlendem normalem HbA in HSC durch Einbringen eines funktionellen β-Gens in HSC zu erreichen oder b) die HbF-Produktion mittels molekulargenetischer Intervention zu steigern. Eine bereits durch die EMA für die Behandlung von β-Thalassämie (wie SDC eine β-Hämoglobinopathie) zugelassene Therapie mit lentiviralem Vektor (wurde auch bei Patient:innen mit SCD bereits erfolgreich geprüft) musste einer Sicherheitsprüfung unterzogen werden, nachdem ein Fall von akuter myeloischer Leukämie (AML) und ein Fall eines myelodysplastischen Syndroms bei SCD-Patient:innen beschrieben wurden. Die Ergebnisse dieser Prüfung kamen zum Schluss, dass die Leukämie wahrscheinlich nicht mit dem Gentransfer zusammenhängt. Nach Diskussionen wegen der hohen Kosten wurde das Arzneimittel aktuell wieder vom europäischen Markt genommen. In den USA steht eine Zulassung für Patient:innen mit SCD noch aus.
Eine andere vielversprechende Strategie ist die HbF-Induktion mittels CRISPR-Cas9-Gen-Editierungstechnologie in CD34-positiven Stammzellen. Ein offenbar erzielter Durchbruch in dieser Technologie (Produkt Exagamglogene autotemcel) wurde am Kongress der Europäischen Hämatologie-Vereinigung (EHA) 2022 in Wien präsentiert: Bei allen 31 Patient:innen mit SCD und durchschnittlich 4 VOC/Jahr wurden VOC verhindert (mittlere Nachbeobachtungszeit 9,6 Monate). Eine Entscheidung über eine Zulassung in den USA für Patient:innen mit SCD wird Ende 2023 erwartet. Weitere Verfahren mit dieser Technologie wurden bereits erfolgreich an kleinen Patientenzahlen untersucht.
Trotz der Euphorie über neue potenzielle Behandlungsmöglichkeiten von Patient:innen mit SCD muss noch geprüft werden, ob deren Einsatz zu einer dauerhaften Verbesserung des Krankheitsverlaufs führt, zumal sie mit z. T. hohen Kosten verbunden sind.