Sie sollen gesteuert, gelenkt und zum „best point of service“ geleitet werden – Patientenströme, die täglich durch das heimische Gesundheitssystem fließen.
Die Ideen, wie das gelingen kann, sind so breit gefächert wie die Stakeholder des Systems selbst, und an Emotionen hat es der Debatte auch noch nie gefehlt. Zuletzt hatte Andreas Huss, Vizeobmann der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), die Wogen wieder hochgehen lassen, als er in einem Zeitungsinterview den Wunsch äußerte, den Zugang zu Fachärzt:innen einschränken zu wollen. Konkret sollten – wie in früheren Zeiten – Hausärzt:innen für die Zuweisungen zu Fachärzt:innen zuständig sein. Direkte Besuche bei Fachärzt:innen würde Huss via e-card-Sperrung einschränken. Ist der Weg zurück ins Jahr 2005, als Pa-tient:innen – damals noch per Krankenschein – von ihren Hausärzt:innen zum/zur Spezialist:in überwiesen wurden, auch der Weg in die Zukunft? Dr. Thomas Czypionka, Gesundheitsexperte und -ökonom des Instituts für Höhere Studien (IHS), kann dem „Versuchsballon“, den Huss hat steigen lassen, jedenfalls einiges abgewinnen, wie er gegenüber der Ärzte Krone erläutert.
„In sehr vielen europäischen Ländern ist es so, dass die Patient:innen in der Regel zuerst zu Allgemeinmediziner:innen gehen. Das liegt auch daran, dass es einen niedergelassenen fachärztlichen Bereich, wie wir ihn kennen, dort gar nicht gibt“, sagt Czypionka. Nachsatz: „Dazu muss man aber auch sagen, dass der Stellenwert der Allgemeinmedizin in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern in Europa relativ niedrig ist.“
Eine Ursache dafür ortet der Gesundheitsexperte in der Ausbildung der vergangenen Jahrzehnte. „Wir hatten hier lange Zeit nur eine dreijährige Ausbildung im Vergleich zur Facharztausbildung. In der alten Ausbildungsordnung hat es beispielsweise auch keine Verpflichtung gegeben, jemals im niedergelassenen Bereich tätig zu werden, was natürlich eigenartig war. Diese Tradition hängt uns nach.“
Dass der Nationalrat Ende Februar dieses Jahres – einstimmig – die Einführung von Fachärzt:innen für Allgemein- und Familienmedizin beschlossen hat, ist für Czypionka folglich ein wichtiger Schritt. Und dabei erst der Anfang: Man will die Hausärzt:innen zu echten Gatekeeper:innen im Gesundheitssystem formen. Um die Brücke zum medizinischen Nachwuchs zu schlagen, „ist es richtig, dass wir jetzt auch größere Allgemeinmedizinerpraxen haben, wo eine Art Generationenmodell lebbar wird. Dort gibt es den Senior, der das schon seit Jahrzehnten ausübt, eine Art Mittelbau sowie Auszubildende, die noch in den Beruf hineinwachsen. Nur so kann eine wirklich leistungsfähige Primärversorgung entstehen.“ Und diese sei die Basis für eine effektive Patientensteuerung, erklärt der Experte. Möglich sei das freilich nur, wenn auch die Qualität der Daten stimmt. Einmal mehr plädiert Czypionka daher für den Ausbau von ELGA „zu einer echten Datenaustausch-Plattform mit möglichst breiter Teilnahme“, um gerade auch komplizierte Krankengeschichten optimal und effektiv zu verfolgen und betreuen zu können. Last, but not least sei aber auch die Sozialversicherung selbst gefordert, wenn sie die jüngsten Vorschläge zur besseren Lenkung der Patient:innen ernst meint. Soll heißen: Findet die Erstabklärung bei den Hausärzt:innen statt, müssten kleinere Untersuchungen und verschiedene Leistungen (besser) bezahlt werden.
OMR Dr. Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK), äußerte sich zuletzt zurückhaltend zu den Vorstößen der ÖGK: Die Patientenlenkung sei ein essenzielles Thema „und sollte daher einerseits mit der nötigen Ernsthaftigkeit und andererseits unbedingt konsensual mit den Vertreter:innen der Ärzteschaft diskutiert werden“. Prof. Dr. Dietmar Bayer, Stellvertretender Bundeskurienobmann niedergelassene Ärzte, wurde deutlicher: Schnellschüsse könnten das Gesundheitssystem ernsthaft in Gefahr bringen. „Den Weg zu Hausärzt:innen mit derart drastischen und alternativlosen Maßnahmen zu erzwingen, würde durch die plötzliche Überlastung der Allgemeinmedizin zum Kollaps führen“, sagte Bayer in Richtung Huss.
Eine Argumentation, die der Wiener Pflege- und Patientenanwalt Dr. Gerhard Jelinek sinngemäß teilte: „Der Vorschlag kommt in einer Zeit, wo Hausärzt:innen überlastet sind und viele Patient:innen überhaupt keine Allgemeinmediziner:innen mehr finden. Hausbesuche für immobile Patient:innen werden dadurch zusätzlich seltener. In dieser Situation darüber zu diskutieren und damit eine zusätzliche Hürde für die Patient:innen beim Zugang zu medizinischer Versorgung zu schaffen, ist nicht nachvollziehbar.“
Der Gesundheitsexperte sieht die Sache ein wenig gelassener, denn: Für eine flächendeckende Umsetzung der nun diskutierten Steuerungsmaßnahmen in Verbindung mit dem nötigen Ausbau der Primärversorgung veranschlagt Czypionka einen Zeitraum von bis zu 15 Jahren. Insofern sei der Vorstoß des Vizeobmanns der ÖGK notwendig gewesen: „Wir müssen beginnen, diese Änderungen in die Wege zu leiten“, fasst Czypionka zusammen. Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) hat das Thema jedenfalls auf der Agenda, wie er kürzlich verlauten ließ: „Im Rahmen der Gesundheitsreform haben sich Bund, Länder und Sozialversicherung auf die Stärkung des niedergelassenen Bereichs und die Schaffung von Mechanismen für eine effektive Lenkung von Patientenströmen geeinigt.“ Betroffene sollen so schnell und unkompliziert wie möglich die richtige medizinische Versorgung erhalten. Dazu würden zwischen den Zielsteuerungspartner:innen Gespräche stattfinden, „um bis zum Sommer geeignete Modelle im Sinne der Patient:innen umzusetzen“.
Ein gedanklicher Anstoß könnte aus Deutschland kommen: Dort sieht ein aktueller Gesetzesentwurf vor, dass Patient:innen, die ihre Hausärzt:innen als erste Anlaufstelle wählen und sich erst von dort an Fachärzt:innen überweisen lassen, mit 30 Euro pro Jahr belohnt werden sollen. Die Finanzierung würde über die gesetzlichen Krankenkassen abgewickelt werden.