Psychosomatische Kompetenz im Praxisalltag

Bei ihrer Begrüßung aller anwesenden und online zugeschalteten Teilnehmer:innen verglich die ÖGPAM-Präsidentin Dr.in Barbara Hasiba den realen und virtuellen mit dem somatischen und psychischen Raum und unterstrich die Bemühung der Psychosomatik, die Brücke vom Entweder-oder zum Sowohl-als-auch zu überwinden. Besonders bedankte sie sich beim „Doyen der PSY-Diplome“, dem ehemaligen Ärztekammerpräsidenten Dr. Reiner Brettenthaler, für sein Kommen.

Begleiten von Jugendlichen mit somatoformen Störungen

In einem sehr lebendigen Vortrag mit vielen Geschichten aus ihrem Arbeitsalltag sprach Dr.in Anna Cavini, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde, St. Veit an der Glan, über ihre „Superheld:innen und die Superheldenfamilien“, die es schaffen, mit der Erkrankung ihrer Kinder und Jugendlichen umzugehen. Sie betonte die Wichtigkeit der Allgemeinmedizin als 1. Anlaufstelle, da sie meist auch gute Kenntnisse des Familiensystems hat. Bei der Abklärung sollte immer sowohl die apparative Diagnostik als auch die psychosoziale Medizin ihren Stellenwert haben. Wachsamkeit, Zurückhaltung und Empathie sind ebenso wichtig wie eine ausführliche Beratung der Familien. Die Gesprächsführung mit Kindern und Jugendlichen sowie ihren Eltern sollte immer transparent und beruhigend, keinesfalls zögerlich sein, die Hilfestellung dann mit vielen aktiven Interventionen für die ganze Familie. Wichtig ist das Erarbeiten von konkreten und realistisch erreichbaren Therapiezielen („Wo willst du hin?“, „Wofür zahlt es sich für dich aus zu kämpfen?) und eine beschwerdeunabhängige Termingestaltung. Anschaulich erzählte Dr.in Cavini über das von ihr mit einem multiprofessionellen Team gegründete Programm „Train to eat“, um damit überregional viele Familien mit an Essstörung leidenden Kindern zu unterstützen.

Psychosomatische Perspektive von Schmerz

Bereits im Kindesalter, so Prim. Dr. Georg Weinländer, LKH Hohenems, werden Unlustgefühle oft somatisiert als eine körperliche Konfliktverarbeitung. Positive und negative Erfahrungen prägen den Umgang mit Schmerz im Erwachsenenalter. Neurobiologische Forschung zeigt, dass die Wahrnehmung von sozialer Ausgrenzung zu einer starken Aktivierung der Hirnzentren für Körperschmerz führt. Frühe Gewalterlebnisse und Deprivation werden daher zu 50% als „Schmerz“ erlebt. In England wurde bereits ein „Ministry of Loneliness“ gegründet und auch in den USA gegen die „Epidemie der Einsamkeit“ ein U.S.Surgeon General eingesetzt, eine Reaktion auf die drastisch ansteigenden Todesfälle durch Schmerzmittelkonsum. In einer Schweizer Studie wurde die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz als wichtigste Ursache von Schmerz herausgearbeitet, die Prävalenz von chronischem Schmerz sind langanhaltende biopsychosoziale Belastungen, auch Migration als Schmerzursache darf nicht übersehen werden.

Die unsichtbare Verbindung: Ernährung, Darm-Gehirn-Achse, Entzündungen und psychische Gesundheit

PD DDr.in Sabrina Mörkl referierte begeistert über ihr Forschungsgebiet, die „metabolische Psychiatrie und Psychosomatik“. Patient:innen mit psychischen Erkrankungen sind durch Bewegungsmangel und gestörtes Essverhalten sowie aufgrund von Psychopharmakaeinnahme, die das Darmmikrobiom verändert, häufig „überfüttert“, adipös und gleichzeitig „unterernährt“, sodass Neurotransmitter nicht in ausreichendem Ausmaß gebildet werden können. Das veränderte Darmmikrobiom kann zu Störungen der schnellen Signalübertragung über die Darm-Gehirn-Achse („Neuropods“ der sensorischen Nervenzellen in der Darmwand) und damit zu Entzündungsreaktionen im gesamten Körper beitragen. Die Ernährung ist ein ganz wichtiges „Psychobiotikum“, das in der Behandlung aller unserer Patient:innen einen hohen Stellenwert bekommen sollte.

Sicherheit und Unsicherheit – Möglichkeiten, damit umzugehen

ÖGPAM-Präsidentin Dr.in Barbara Hasiba sprang dankenswerterweise kurzfristig als Ersatzvortragende zu einem sehr aktuellen Thema – der derzeit erlebten raum-, zeit- und kontextabhängigen Unsicherheit – ein. Die weltpolitischen Veränderungen, mit gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Umbrüchen einhergehend, führen oft zu Flucht in geschlossene (Denk-)Räume (Beispiel: Impfgegner:innen). Gänzliche Sicherheit ist eine Utopie, trotzdem sollten in der ärztlichen Rolle Sicherheit vermittelt, Standpunkte bezogen, Entscheidungen getroffen und mit den Patient:innen Ziele erarbeitet werden. Auch Unsicherheit kann als Ressource genützt werden, um sich abzusichern, nachzufragen, mehr Informationen zu sammeln. Wichtig ist, „Veränderbares“ von „Unabänderlichem“ abzugrenzen sowie „Verfügbares“ und „Unverfügbares“ (wie zum Beispiel gänzliche Sicherheit) zu unterscheiden. Eine sichere Insel kann der Schlaf sein, den wir Ärzt:innen in den Anamnesen mehr erfragen sollten. Auch „Aushandlungsräume“, in denen wir Ambivalenzen für unsere Patient:innen möglich sein lassen, sollten eröffnet werden.

Kurzinterventionen in der hausärztlichen Praxis

Dr.in Johanna Leitner und Dr.in Elisabeth Wejbora, Leiterinnen der Primärversorgungseinheit in Graz-Gries, stellten anhand einer bunten Palette von Fallbeispielen aus ihrer Praxis systemische Fragetechniken, Skalierungen, Herausarbeitung von Ressourcen sowie das „Verschreiben von sozialen Unternehmungen“ (Kochkursen, Bewegung, Tanzkursen, Theaterbesuchen) vor.

Dr.in Barbara Hasiba erklärte ein von ihr erarbeitetes ABS-System (Atmung – Bewegung – Sinne) bei Patient:innen mit Panikattacken. Dies kann sowohl von Betroffenen in der Situation selbst angewandt werdenals auch von Ärzt:innen in der Akutsituation als hilfreiche Intervention.

Nach den Vorträgen fanden 3 parallele Workshops zu folgenden Themen statt:

  • „Verschreibung, Verwaltung und Evaluierung psychoaktiver Medikamente“ (Dr.in Renate Hoffmann-Doringer, Wien, und Dr. Herbert Bachler, Innsbruck)
  • „Kriterien der Zusammenarbeit im psychosomatischen Kontext“ (MR Dr. Reinhold Glehr, Hartberg)
  • „Soziale Kompetenzen im Praxisalltag“ (Mag.a Sigrun Eder, Salzburg)
Wie jedes Jahr gab es einen künstlerischen und für alle anwesenden Teilnehmer:innen entspannenden Nach:Hall.
Auszüge aus dem Stück „Da Jesus und seine Hawara“ (von Wolfgang Teuschl) wurden von den Schauspielerinnen Michaela und Angela Schausberger genial präsentiert und bildeten einen sehr gelungenen Abschluss der 10. ÖGPAM-Tagung.