Die Zahl der Jugendlichen, die eine Diskrepanz zwischen ihrem Geschlechtszugehörigkeitsempfinden und ihrem Geburtsgeschlecht erleben, hat in den letzten 10 bis 15 Jahren deutlich zugenommen. Viele der betroffenen Jugendlichen stellen sich in spezialisierten kinder- und jugendpsychiatrischen Sprechstunden vor und äußern häufig den Wunsch nach körpermodifizierenden Maßnahmen. Angesichts der Tragweite solcher irreversiblen Interventionen und der kritischen Entwicklungsphase des Jugendalters sind eine sorgfältige Diagnostik und interdisziplinäre Zusammenarbeit unverzichtbar.
Im vergangenen Jahrzehnt hat sich ein bedeutsamer Paradigmenwechsel in der Diagnostik von Geschlechtsidentitätsfragen vollzogen. Im Sinne der Entpathologisierung wurde im DSM-5 die Diagnose einer Geschlechtsidentitätsstörung entfernt und durch die Diagnose „Geschlechtsdysphorie“ ersetzt. Diese betrachtet nun ausdrücklich den Leidensdruck und die funktionelle Beeinträchtigung von Individuen, jedoch nicht mehr ihre Geschlechtsidentität als störungsrelevant. In der noch ausstehenden deutschen Veröffentlichung der ICD-11 wird ebenfalls die frühere Diagnose einer gestörten Geschlechtsidentität aufgegeben. Die neu eingeführte Diagnose „Geschlechtsinkongruenz“ für das Kindesalter sowie für das Jugend- und Erwachsenenalter ist explizit außerhalb des F-Kapitels für psychische Störungen und stattdessen in der neu eingeführten Rubrik „Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“ verortet. Im Gegensatz zur DSM-5-Diagnose der Geschlechtsdysphorie erfordert die Diagnosestellung keinen bestehenden psychischen Leidensdruck.
Ein sorgfältiges differenzialdiagnostisches Vorgehen ist unerlässlich, um ein Geschlechtsinkongruenzempfinden im Kontext der häufig vorliegenden Begleitsymptomatik angemessen behandeln zu können. In der klinischen Literatur wird meist von affektiven Störungen berichtet, wobei neuere Studien zunehmend darauf hindeuten, dass bei einem Teil der Jugendlichen, die in Spezialsprechstunden vorstellig werden, auch tiefgreifendere Beeinträchtigungen in der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung vorliegen, die wiederum oftmals mit frühkindlichen traumatischen Erfahrungen in Zusammenhang stehen.
Diese differenzialdiagnostischen Herausforderungen erfordern ein behutsames und individuell angepasstes Vorgehen. Jede Entscheidung hinsichtlich körpermodifizierender Maßnahmen – im Jugendalter vordergründig hormonelle Therapien – sollte mit einer ergebnisoffenen und umfassenden psychotherapeutischen Exploration einhergehen, um sicherzustellen, dass Jugendliche ihre Wünsche und Motivationen reflektieren und bewusst abwägen können.
Das Geschlechtsidentitätsempfinden im Kindes- und Jugendalter kann sich dynamisch entwickeln. Einige Jugendliche berichten, bereits über Jahre von persistierendem Geschlechtsinkongruenzempfinden betroffen gewesen zu sein und dies möglicherweise bereits in der Kindheit verspürt zu haben. Diese Situation kann zu einem erheblichen Leidensdruck führen, körpermodifizierende Behandlungen können für diese Betroffenen zu mehr Lebenszufriedenheit führen. Andere Jugendliche wiederum weisen größere Instabilität in ihrer Entwicklung auf, einschließlich ihres Geschlechtsidentitätsempfindens. Es kann sich eine passagere geschlechtsbezogene Unsicherheit einstellen, die als Reaktion auf zahlreiche überfordernde Entwicklungsaufgaben oder stattgehabte traumatische Erfahrungen entstehen kann.
Es gilt also für in diesem Bereich tätige Fachpersonen, jungen Menschen mit Symptomen einer Geschlechtsdysphorie einen geschützten therapeutischen Raum zu eröffnen, innerhalb dessen eine möglichst sorgfältige und ergebnisoffene Reflexion der Situation erfolgen kann. Aus unserer Sicht ist eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit unerlässlich, um körpermedizinische Interventionen im Rahmen einer entwicklungsbegleitenden Entscheidungsfindung gemeinsam mit den Betroffenen und deren Bezugspersonen sorgfältig abzuwägen.
Es besteht im Feld gegenwärtig eine polarisierte Debatte um die angemessene Behandlung Betroffener und dringender Bedarf an robusten Forschungsdaten zu den langfristigen Auswirkungen pubertätsunterdrückender sowie feminisierender bzw. maskulinisierender Hormontherapien – auf somatischer wie auch auf psychischer Ebene. Einerseits wird die Bedeutung eines Zugangs zu körpermodifizierenden Maßnahmen hervorgehoben, die bei möglichst klarer Indikationsstellung den Leidensdruck betroffener Jugendlicher lindern sowie soziale Teilhabe und die Erfüllung wesentlicher Entwicklungsaufgaben ermöglichen können. Kritische Stimmen wiederum warnen andererseits vor mangelnden Langzeitstudien und Behandlungsentscheidungen, die von einem kleinen Teil der Betroffenen in individuellen Fällen später bereut werden.
Angesichts der komplexen Entwicklungsprozesse im Jugendalter und der Tragweite körpermodifizierender Maßnahmen ist ein behutsamer, ergebnisoffener und interdisziplinärer Ansatz von zentraler Bedeutung in der Behandlung. Wünsche und Vorstellungen der Betroffenen selbst müssen im Sinne eines Shared Decision-Making angemessen miteinfließen. Nur langfristige Zusammenarbeit zwischen Fachkräften aus den Bereichen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Endokrinologie und Psychotherapie kann dazu beitragen, bestmögliche Entscheidungen im Sinne einer langfristigen psychischen und körperlichen Stabilität, einer sozialen Teilhabe sowie eines individuellen Wohlbefindens zu ermöglichen.