Adipositas-Versorgung: „Wir müssen uns besser vernetzen“

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Hohe Kosten und fehlende Strukturen – beim Adipositasmanagement in Österreich gibt es Verbesserungsbedarf. Florian Kiefer von der Medizinischen Universität Wien spricht über konkrete Maßnahmen, die Ärzt:innen und Patient:innen  zugutekommen würden.  

Eine aktuelle Analyse des Instituts für Höhere Studien zeigt: Adipositas und die Folgeerkrankungen kosten jährlich 4.000 Menschen das Leben, sorgen für über eine Million Krankenstandstage und sind für fast fünf Prozent der Gesundheitsausgaben in Österreich verantwortlich. Was läuft hier falsch? Punktuell ist die Versorgung in Österreich eigentlich sehr gut, wir haben Zentren, die Spitzenmedizin in diesem Bereich anbieten. Das Problem liegt in der fehlenden flächendeckenden Primärversorgung. Das hat unter anderem damit zu tun, dass das Adipositasmanagement dort als Leistung sehr schwer abbildbar ist. Ein Gespräch mit dem Hausarzt/der Hausärztin ist im Kassenbereich nicht adäquat verrechenbar, für die Diagnostik und Behandlung des oder der Patient:in ist es aber notwendig. Gerade bei Adipositas sind Gespräche zum Lebensstil inklusive Ernährungsgewohnheiten und Bewegungsmanagement von großer Bedeutung. Auch die Einleitung einer medikamentösen Therapie ist relativ zeitaufwendig, da zuvor eine Schulung zur Applikation, Dosistitration und Nebenwirkungsmanagement erfolgen muss. Um die passenden Anlaufstellen koordinieren zu können, braucht es zusätzlich eine bessere Vernetzung unter dem Gesundheitspersonal und Gesundheitseinrichtungen. Nicht zu vergessen: alle konservativen Therapieoptionen inklusiven Adipositasmedikamente, Ernährungs- und/oder Bewegungsberatung sind derzeit noch fast ausschließlich Privatleistungen. 

Das heißt, dass einerseits die Adipositas-Versorgung im niedergelassenen Kassenbereich ausgebaut werden müsste und es gleichzeitig eine bessere Patient:innenlenkung braucht? Genau. Es gibt Spezialist:innen mit Kassenverträgen, auch Kliniken haben Diätolog:innen dabei – aber diese Angebote gibt es dann eben nicht flächendeckend. Es sollte von Anfang an klare, niederschwellige und sozialgerechte Strukturen geben, die von vornherein zeigen, wer die erste Anlaufstelle ist und wie es danach weitergeht. Adipositas verlangt ein multimodales Management aufgrund der vielen Folgeerkrankungen. Es braucht, je nach Situation, ein Team an Hausärzt:innen,  Stoffwechselexpert:innen, Psychotherapeut:innen, Diätolog:innen, Bewegungstherapeut:innen, Chirurg:innen und so weiter. 

Welche konkreten Maßnahmen sollten also auf kurze und auf lange Sicht umgesetzt werden? Adipositas muss als Erstes von allen Stakeholdern im Gesundheitssystem als chronische Erkrankung anerkannt werden. Krankhaftes Übergewicht wird häufig als etwas Selbstverschuldetes gesehen, etwas, was aufgrund von mangelnder Disziplin entsteht. Das ist schlichtweg falsch. Wissenschaftlich ist klar, dass neben dem Lebensstil auch hormonelle Veränderungen, Genetik sowie psychosoziale Faktoren die Entstehung beziehungsweise das Persistieren der Erkrankung begünstigen.  Das muss akzeptiert werden – gesamtgesellschaftlich und auf höchster Ebene. Nur dann können strukturelle Veränderungen gelingen. Die Lungenerkrankung COPD, die häufig durch Rauchen mitausgelöst wird, ist ebenfalls eine chronische Erkrankung, hier hinterfragt dies aber niemand.  

Und in der Prävention? Präventionsmaßnahmen müssen gestärkt werden, und zwar schon im Kindesalter. Das fängt an bei der regelmäßigen Turnstunde und der gesunden Jause in der Schule über das Einbeziehen der Eltern durch gemeinsames Einkaufen und Kochen mit den Kindern bis zu Awareness-Kampagnen. Hier früh anzufangen ist besonders wichtig, denn es gibt mittlerweile viele Studien, die zeigen, dass jene Kinder, die im Schuleintrittsalter adipös sind, dies mit einer 80- bis 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsene sein werden.  

Wie sieht es bei der medikamentösen Behandlung aus? Welche Rolle spielen neue Abnehmmittel? Die medikamentöse Therapie der Adipositas spielt eine wichtige Rolle unterstützend zu Lebensstilmaßnahmen aber wie bereits erwähnt sind diese Medikamente in Österreich de facto eine Privatleistung. Erst seit wenigen Wochen gibt es erstmals eine Erstattungsregelung eine medikamentöse Therapie (Liraglutid), allerdings nur für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren mit Betreuung in spezialisierten Zentren. Für Erwachsene wirds dieses Medikament nur erstattet, wenn sich der oder die Patient:in für eine bariatrische Operation wie beispielsweise einen Magenbypass entschieden hat – und auch dann nur für ein Jahr befristet. Das sind erste Schritte aber hier müssen wir noch deutlich weiterkommen, da dies nur einen sehr kleinen Teil der Erwachsenen mit Adipositas betrifft. Was die neuen Abnehmmedikamente anbelangt haben wir derzeit die Situation, dass Patient:innen aktiv danach fragen.  Meiner Meinung nach wird der Stellenwert der medikamentösen Therapie in Zukunft sogar noch weiter steigen wird, weil derzeit weitere, teils noch potentere Mittel entwickelt werden. Ich denke, dass zukünftig auch stärker individualisierte Therapien dadurch möglich werden. 

Können die neuen Abnehmmittel ein Ersatz für eine Lebensstiländerung sein? Nein, das nicht. Beim Management der Adipositas müssen immer mehrere Maßnahmen verschränkt angewendet werden. Das bedeutet, dass die medikamentöse Therapie am effektivsten ist, wenn auch gleichzeitig Lebensmaßnahmen eingehalten werden. Die Stärke der neuen Präparate liegt darin, dass sie das Gewicht langfristig stabilisieren können, dazu muss man sie aber auch dauerhaft nehmen – zumindest deutet bisher alles daraufhin. Einzelfälle, in denen das Arzneimittel abgesetzt und das Gewicht gehalten wurde, sind leider eher die Ausnahme. Es handelt sich eben um eine chronische Erkrankung, wobei es nacheinem Gewichtsverlust zu Anpassungsvorgängen im Körper kommt, die alle darauf abzielen wieder zuzunehmen. Dazu kommt, dass wir in einem adipositasfördernden Umfeld leben. 

Das heißt? Unser Alltag ist geprägt von sitzenden Jobs, energiedichten, zuckerhaltigen Lebensmitteln, die noch dazu ständig auf der Straße und in den (sozialen) Medien beworben werden. Hier könnte der Staat eingreifen und eine Zuckersteuer sowie ein Werbeverbot für Süßigkeiten in Kinderprogrammen aussprechen. Aber darüber hinaus braucht es eben ein flächendeckendes und niederschwelliges Präventions- und Therapieangebot sowie ein Bewusstsein bei allen Stakeholdern und eine Zusammenarbeit mit der Industrie. (Das Interview führte Katrin Grabner)