Krebsprävention und Optimierung der Gesundheitsversorgung obdachloser Menschen

SPECTRUM Onkologie: Herr Professor Grabovac, wie ist das Projekt CANCERLESS entstanden?

Ap. Prof. Priv.-Doz. DDr. Igor Grabovac: Vorangegangen ist dem Projekt ein Förderungscall der EU-Kommission im Rahmen von Horizon 2020. 2020 war auch das Jahr, in dem mit Europe’s Beating Cancer Plan Krebs eine der Hauptprioritäten der Europäischen Kommission im Gesundheitsbereich wurde, bestehend aus den vier Säulen Prävention, Früherkennung, Behandlung und Nachsorge.
Der Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen ist für Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, besonders schwierig. Neben strukturellen Hindernissen, wie der Unmöglichkeit, eine Einladung zur Vorsorgeuntersuchung zu erhalten, weil sie keinen festen Wohnsitz haben oder keinen Zugang zu einer Kranken-/Sozialversicherung, ist diese Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer komplexen Bedürfnisse, zu denen oft noch psychiatrische Komorbiditäten und Traumata hinzukommen, mit erheblicher Stigmatisierung und Diskriminierung durch die Gesundheitsdienste konfrontiert. Infolgedessen ist das Misstrauen gegenüber dem Gesundheitssystem groß, weshalb traumasensible Ansätze erforderlich sind.

Was ist das Ziel von CANCERLESS?

Das CANCERLESS-Projekt zielt darauf ab, Krebs bei unterversorgten obdachlosen Menschen zu verhindern, indem es personenzentrierte Maßnahmen anbietet und ihnen den rechtzeitigen Zugang zu hochwertigen Präventions- und Screening-Diensten erleichtert. Das Projekt arbeitet mit obdachlosen Menschen in Österreich, Griechenland, Spanien und dem Vereinigten Königreich. Es ist ein einzigartiges Projekt und spielt eine entscheidende Rolle im Bereich der Krebsforschung und -prävention, da es sich besonders auf hochgradig gefährdete und unterversorgte Bevölkerungsgruppen konzentriert. Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, haben eine um etwa 30 Jahre kürzere Lebenserwartung als die Bevölkerung mit festem Wohnsitz und weisen eine höhere Krebs- und Sterblichkeitsprävalenz auf. CANCERLESS ist das erste Projekt in Europa, das sich mit Krebs in dieser gefährdeten Bevölkerungsgruppe befasst.
Die Einzigartigkeit des Projekts liegt auch in seinem partizipativen Co-Design- Ansatz, der die Bevölkerung in die Entscheidungsprozesse der geplanten Maßnahmen einbezieht und diese kontextbezogen und basisorientiert gestaltet. Die Einbeziehung von obdachlosen Menschen in die Patientennavigation trägt dazu bei, den Zugang zu einer gerechten Versorgung und die Gesundheitskompetenz zu verbessern und Barrieren für die Inanspruchnahme von Dienstleistungen zu beseitigen.

Warum haben Sie sich für das Projekt entschieden?

Wir haben uns für dieses Projekt entschieden, weil es in Europa etwa eine Million obdachlose Menschen gibt, für die kaum jemand aktiv arbeitet. Diese große Bevölkerungsgruppe erhält nur wenig Unterstützung. Unser Ziel ist es, durch das Projekt die Krebsprävention und den Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen für obdachlose Menschen zu verbessern. Wir haben überlegt, wie wir dies am besten umsetzen können, und sind zu zwei Modellen gekommen.
Erstens möchten wir durch Patient Empowerment die Obdachlosen befähigen, eigenständige und richtige Entscheidungen für ihre Gesundheit zu treffen. Zweitens möchten wir das Problem der Fragmentierung im Gesundheits- und Sozialsystem angehen. In Europa, insbesondere in Österreich, sind diese Systeme stark fragmentiert und kommunizieren nicht ausreichend miteinander. Durch ein Patienten-Navigationsmodell hoffen wir, eine bessere Integration dieser Systeme zu erreichen und somit den obdachlosen Menschen effektiver helfen zu können.

Gab es bei der Initiierung des Projekts Fragen, ob Krebsvorsorge das vorrangigste Thema für obdachlose Menschen wäre?

Viele Menschen haben uns gesagt, dass eine Wohnung viel wichtiger ist, weil das das Dringendste ist, was die Menschen brauchen. Wir haben jedoch darauf hingewiesen, dass die Gesundheitsprobleme einer Person nicht gelöst sind, nur weil sie jetzt eine Wohnung hat. Probleme wie Rauchen, Impfstatus und Traumata bleiben bestehen und beeinflussen die Gesundheit weiterhin. Eine Wohnung zu finden, ohne zusätzliche Betreuung oder gesundheitliche Unterstützung, wird nicht unbedingt helfen. In unserer Arbeit in The Lancet Public Health1 wird das ebenfalls thematisiert. Wir haben qualitative Interviews mit obdachlosen Menschen und Fachleuten geführt und festgestellt, dass sie durchaus über ihre Gesundheit nachdenken und verstehen, dass Obdachlosigkeit ihre Gesundheit beeinflusst. Sie haben uns auch erzählt, wo die Barrieren liegen, warum sie nicht zum Arzt gehen oder warum sie gesundheitliche Maßnahmen und Ratschläge nicht befolgen.
Diese qualitative Forschung ist sehr wichtig. Wir haben direkt Interviews mit obdachlosen Menschen geführt, und die Geschichten waren oft sehr problematisch. Wir haben obdachlose Menschen interviewt, die gesund waren, solche, die an Krebs erkrankt und obdachlos waren, sowie Krebspatient:innen, die überlebt hatten. Besonders beeindruckend war ein Interview, das mein Kollege mit einer Frau im Stadium vier Brustkrebs geführt hat. Sie lebte mit ihrem Mann in einem Zelt auf der Donauinsel und benötigte palliative Versorgung. Für obdachlose Menschen gibt es in Österreich jedoch nur eine Einrichtung für palliative Versorgung, das Vinzi-Hospiz in Graz, das nur zwei Betten hat.
Wir haben mit den Fachkräften gesprochen, vorwiegend mit Sozialarbeiter:innen, die in Einrichtungen für obdachlose Menschen arbeiten. Diese waren sehr betroffen, insbesondere von den Geschichten über Krebserkrankungen, die sie miterlebt haben. Die Sozialarbeiter:innen sind nicht für medizinische Betreuung ausgebildet, was für sie enorm belastend war.

Was waren die Hauptbotschaften der erwähnten Lancet-Publikation, die im Rahmen des CANCERLESS-Projekts durchgeführt wurde?

Die Hauptaussagen der Studie sind:
1. Ort der Interventionen: Um die Teilnahmequote an krebspräventiven Maßnahmen bei obdachlosen Menschen zu erhöhen, sollten die Interventionen dort stattfinden, wo sich die Betroffenen aufhalten, also in sozialen Einrichtungen und nicht in Gesundheitseinrichtungen. Obdachlose kommen selten selbstständig in Gesundheitssysteme.
2. Traumasensibler Ansatz: Die Maßnahmen müssen traumasensibel gestaltet werden und die gesamte Umgebung berücksichtigen. Ein Beispiel aus der Studie zeigt, dass gynäkologische Untersuchungen in Einrichtungen für obdachlose Frauen problematisch waren, weil es an ausreichenden Duschmöglichkeiten und Hygiene fehlte. Dies führte dazu, dass sich die Frauen unwohl fühlten. Ähnlich verhält es sich mit Darmkrebs-Screenings, bei denen das Fehlen kostenloser Toiletten in Wien eine Barriere darstellte. Diese systemischen Probleme müssen bei der Planung von Interventionen berücksichtigt werden.
3. Aufbau von Vertrauen: Besonders bei der Arbeit mit obdachlosen Frauen ist der Aufbau von Vertrauen unerlässlich, da viele von ihnen Erfahrungen mit sexueller Gewalt gemacht haben. Ein bloßes Angebot gynäkologischer Untersuchungen reicht nicht aus. Es erfordert Zeit und den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zur Community, bevor Maßnahmen ergriffen werden können. Ein Beispiel aus England zeigt, dass die Navigator:innen wöchentlich zu sozialen Einrichtungen gingen, um gemeinsam gesundes Essen zuzubereiten. Diese Gelegenheit nutzten sie, um den Menschen Gesundheitsinformationen zu vermitteln und Vertrauen aufzubauen.

Sie haben das Patienten-Navigationsmodell angesprochen. Was genau ist die Funktion eines oder einer Gesundheitsnavigator:in?

Gesundheitsnavigator:innen spielen eine zentrale Rolle im Projekt. Alles beginnt mit einer Bedarfsanalyse. Der entscheidende Punkt ist, dass wir nicht erwarten, dass die Menschen zu uns kommen, sondern dass wir dorthin gehen, wo sie sich aufhalten. Deshalb wurden die Gesundheitsnavigator:innen in sozialen Einrichtungen platziert, in denen obdachlose Menschen regelmäßig Hilfe suchen, wie z.B. bei der Caritas oder verschiedenen Vereinen in Wien.
Zu Beginn des Projekts wurde ein ausführlicher Fragebogen entwickelt, um die spezifischen Krebsrisikofaktoren der Personen zu identifizieren. Basierend auf den Ergebnissen der Bedarfsanalyse erstellen die Navigator:innen gemeinsam mit den Personen ein individuelles Programm. Zum Beispiel könnte festgestellt werden, ob jemand nicht regelmäßig geimpft ist, ein bestimmtes Alter erreicht hat und zur Brustkrebsvorsorge gehen sollte oder sehr viel raucht. Die Navigator: innen beraten dann entsprechend und unterstützen die Personen bei notwendigen Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge.

Der Grant war mit über 2,8 Millionen Euro dotiert. Keine Frage, dass Geld für das Projekt die entscheidende Rolle spielte.

Ja, Geld spielte eine entscheidende Rolle bei der Durchführung des Projekts. Ohne finanzielle Mittel wäre es nicht möglich gewesen, das Projekt umzusetzen. Wir haben auch eine ökonomische Analyse durchgeführt, die wir noch veröffentlichen werden, um zu zeigen, dass die Implementierung eines solchen Modells weniger kostet als die Folgekosten einer Behandlung. Dies ist besonders wichtig, wenn man mit Politiker:innen spricht, die oft nach den Kosten fragen. In Spanien wurde dies als wichtige Evidenz genutzt, um die Prozesse zu etablieren. Madrid gilt dabei als Erfolgsgeschichte, da das System dort erfolgreich implementiert wurde und die Menschen nun Zugang zu diesen Gesundheitsdiensten haben. Die Gelder waren entscheidend und der größte Teil des Budgets wurde für das Personal verwendet.

Von der Statistik Austria wird die Zahl der registrierten Obdach- und Wohnungslosigkeit mit rund 20.000 Personen angegeben. Im Rahmen des Events im Mai wurde die Zahl auch seitens der Statistik Austria selbst thematisiert.

Ein Problem mit dem Bericht von Statistik Austria ist, dass die erfassten Zahlen nur die registrierten obdachlosen Menschen umfassen. In Österreich muss man sich als obdachlos anmelden, um in dieses Register aufgenommen zu werden. Das stellt eine große Barriere dar, weil viele Menschen sich nicht registrieren lassen, da dies stigmatisierend ist.
Andererseits stellt sich die Frage, was man erhält, wenn man sich registriert. Ein weiteres Problem ist die Definition von Obdachlosigkeit. Die europäische Definition umfasst viele Menschen, die nicht in das Register aufgenommen werden. Beispielsweise gelten Couchsurfer oder Personen, die bei Familienmitgliedern auf der Couch schlafen, ebenfalls als obdachlos. Frauen, die von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind, sind per Definition auch obdachlos, obwohl sie nicht auf der Straße leben.
Diese Unterschiede in den Definitionen haben wir in unsere Studie aufgenommen und verschiedene Kategorien berücksichtigt. Wir werden analysieren, wie schwierig die Situation in diesen Gruppen ist und welche Unterschiede es gibt. Menschen, die auf der Straße leben, haben wahrscheinlich viel größere Probleme und einen schwereren Zugang zu Unterstützung als diejenigen, die bei einem Familienmitglied auf der Couch schlafen.
Die Ergebnisse zeigen, dass es eine große Dunkelziffer gibt. Ich schätze, dass die tatsächliche Zahl zwei- bis dreimal so hoch ist wie die registrierte Zahl. Realistisch gesehen könnte die Zahl der obdachlosen Menschen in Österreich zwischen 40.000 und 60.000 liegen, und nicht bei den offiziell angegebenen 20.000.

Wie ist der Stand des Projekts?

Mit Ende Mai wurde das Projekt offiziell abgeschlossen. Wir sind nun mit den administrativen Aufgaben beschäftigt. Von der EU-Kommission wird es noch mehrere Monate dauern, bis alles überprüft ist. Sie geben uns dann Feedback zu den Ergebnissen, die wir produziert haben, und informieren uns darüber, ob wir noch etwas verbessern oder ergänzen müssen. Allerdings gibt es keine aktiven Arbeiten mehr am Projekt selbst. Natürlich haben wir viele Daten gesammelt, die noch veröffentlicht, analysiert und beschrieben werden müssen. Doch das Projekt an sich wird nicht mehr aktiv weitergeführt.

Welches Fazit ziehen Sie nach dem Stakeholder-Event in Wien?

Für mich war es sehr problematisch, dass die Politiker:innen in Österreich nicht auf unsere Einladungen reagiert haben. Es ist eine österreichische Idee, ein Projekt, das von Österreich aus koordiniert und organisiert wurde. Trotzdem besteht in Österreich seitens der Politik kein Interesse daran. In Madrid haben sie z.B. großartige Ergebnisse erzielt. Ärzt:innen können per Mausklick Menschen zu Screenings schicken, was wunderbar funktioniert. Ein Kollege aus Großbritannien hat berichtet, dass er tatsächlich 500.000 Pfund erhalten hat, um weiterzumachen. Sie werden mobile Screening-Einheiten einrichten, die zwischen verschiedenen Sozialeinrichtungen für obdachlose Menschen pendeln und dort Screening- und Präventionsaktivitäten durchführen. Das Projekt wird in Großbritannien mindestens vier bis fünf Jahre laufen.

Weitere Informationen: cancerless.eu