Stellenwert der Inkretinmimetika

Aktuell sind in Österreich etwas mehr als die Hälfte der Erwachsenen und rund ein Viertel der Kinder und Jugendlichen von Übergewicht oder Adipositas betroffen. Eine rechtzeitige Diagnose und Therapie können Folgekomplikationen verhindern.

Eine unterdiagnostizierte Erkrankung

Einer rezenten israelischen Studie mit über 200.000 Patient:innen zufolge hatten nur 18% der von Übergewicht oder Adipositas Betroffenen eine dokumentierte Diagnose. Dabei hatten jene mit einer erfassten Diagnose eine beinahe zweifach höhere Wahrscheinlichkeit, auch eine entsprechende Therapie und Nachsorge zu erhalten. Zusätzlich zu Lebensstilmaßnahmen und gegebenenfalls verhaltenstherapeutischen Ansätzen zählen insbesondere die pharmakologische Intervention und in schwereren Fällen auch die bariatrische Chirurgie zu den weiteren Therapieoptionen.

Zugelassene Inkretinmimetika bei Adipositas

Der erste Glucagon-like-Peptide(GLP-)1-Rezeptoragonist mit Zulassung in der Indikation Übergewicht/Adipositas war das einmal täglich zu applizierende Liraglutid gefolgt vom wöchentlich anzuwendenden Semaglutid. Seit Juni 2024 ist in Österreich auch Tirzepatid, der erste duale Rezeptoragonist für Glucose-dependent Insulinotropic Polypeptide (GIP) und GLP-1, erhältlich. Sämtliche Präparate sind zusätzlich zu Lebensstilmaßnahmen ab einem Body-Mass-Index (BMI) ≥30 kg/m2 bzw. ab einem BMI ≥ 27 kg/m2 bei Vorhandensein von übergewichtsassoziierten Begleiterkrankungen zugelassen.

Wie wirken die neuen Adipositasmedikamente?

Die Grundlage für die Entwicklung der genannten Substanzen stellen die Inkretinhormone GLP-1 und GIP dar, die physiologisch nach der Nahrungsaufnahme vom Dünndarm sezerniert werden und glukoseabhängig die Insulinausschüttung in der Betazelle stimulieren, aber auch über Rezeptoren im Zentralnervensystem (ZNS) Appetit und Sättigung regulieren. Der gewichtsreduzierende Effekt ist in erster Linie die Folge der ZNS-Wirkung, wohingegen die anfänglich diskutierte Verlangsamung der Magenentleerung insbesondere bei länger dauernder Einnahme keine Relevanz hat. Bemerkenswert ist, dass unter der Therapie mit GLP-1- bzw. GIP/GLP-1-Rezeptoragonisten nicht nur die Gesamtkalorienzufuhr sinkt, sondern auch Heißhunger und Craving für bestimmte Nahrungsmittel wie Süßigkeiten oder Fast Food abnehmen. Der neue GIP/GLP-1-Rezeptoragonist Tirzepatid scheint zusätzlich auch direkte Effekte auf das Fettgewebe zu haben, wodurch im postprandialen Zustand Triglyzeride und Glukose vermehrt in Adipozyten aufgenommen werden können, während im Nüchternzustand die gespeicherten Lipide verstärkt durch Lipolyse mobilisiert werden und somit zur Betaoxidation herangezogen werden können. Diese Effekte sind auf die Aktivierung des GIP-Rezeptors zurückzuführen und könnten einen zusätzlichen Beitrag zur Gewichtsabnahme bzw. zum Schutz vor ektoper Lipidakkumulation leisten. In klinischen Studien zeigte sich, dass mit jeder neuen Generation dieser Inkretinmimetika ein noch stärkerer durchschnittlicher Gewichtsverlust erzielt werden konnte: ca. 10%ige Reduktion des Ausgangsgewichtes mit Liraglutid, etwa 15 % mit Semaglutid und mittlerweile > 20 % mit Tirzepatid. Es scheint in puncto Gewichtsabnahme jedoch noch kein Ende in Sicht, da rezente Studien zeigen, dass neue, noch nicht zugelassene Substanzen wie die Triple-Rezeptoragonisten für GIP/GLP 1/Glukagon noch potenter sind.

Bedeutung der medikamentösen Therapie

Durch die Entwicklungen der letzten Jahre stehen uns nun einige sehr effektive pharmakologische Therapieoptionen bei Adipositas zur Verfügung, und es ist davon auszugehen, dass sich das Armamentarium in naher Zukunft noch deutlich vergrößern wird. Dennoch ist der Zugang zu diesen Medikamenten derzeit noch erschwert, und wir sind weit entfernt von einem bedarfsgerechten Einsatz bei Patient:innen, welche die Therapieindikationen erfüllen. Dies ist einerseits auf die rasch steigende globale Nachfrage und daraus resultierende Versorgungsengpässe zurückzuführen, andererseits auf die fehlenden Erstattungsmöglichkeiten durch die Sozialversicherungsträger. Da diese Therapien teuer sind, sind insbesondere sozial schwächer gestellte Personengruppen betroffen. Dabei verursacht die Erkrankung deutlich höhere Lebenszeitkosten, etwa durch höhere Gesundheitsausgaben, mehr Krankenstände oder Einschränkungen in der Arbeitsfähigkeit.

Neben den ökonomischen und sozialen Aspekten mehren sich auch die medizinischen Gründe für den rechtzeitigen Einsatz dieser Therapeutika. So kann die Entstehung eines Typ-2-Diabetes bei bereits vorhandenem Prädiabetes durch die Therapie mit Inkretinmimetika verhindert werden. In der rezenten SELECT-Studie konnte bei Patient:innen mit Übergewicht/Adipositas und arterieller Verschlusskrankheit (aber ohne Diabetes) durch Semaglutid das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse signifikant gesenkt werden. Angesichts der steigenden wissenschaftlichen Evidenz und des hohen klinischen Bedarfs wäre also eine sozial gerechte Versorgungssituation und ein erleichterter Zugang zu diesen Therapieoptionen aus Sicht der Betroffenen wünschenswert.