Dr. Jurij Maurer
4. Medizinische Abteilung mit Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie, Zentralendoskopie, Klinik Landstrasse, Wien
Dr. Jurij Maurer: Bei der ÖGIM-Jahrestagung schilderten Dr.in Eva Asamer und ich den komplexen Fall einer jungen Patientin, und das Publikum hat richtig mitgelebt. Wichtig war uns, die Falldiskussion locker und mit Humor zu gestalten, um eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. Wir wollten das Publikum nicht mit zu viel Information überfrachten, sondern dessen Aufmerksamkeit durch „Storytelling“ binden. Auf dem Weg zur finalen Diagnose, auf die alle hinfieberten, haben wir wichtige klinische Aspekte vertieft. So konnte das Publikum schon viel Wissen mitnehmen, noch bevor der knifflige Fall letztendlich von Dr. Dietmar Schiller aufgelöst wurde. Die Möglichkeit, während der Präsentation Echtzeit-Feedback zu geben, etwa über digitale Umfragetools, förderte die Aufmerksamkeit und Spannung zusätzlich. Nebenbei haben wir versucht, moderne KI-Tools parallel in die Lösung des Falles einzubinden und dadurch Limitationen und Möglichkeiten von Programmen wie ChatGPT aufzuzeigen. Generell besteht der Reiz dieser Art der Fortbildung darin, dass wir Geschichten erzählen, und das ist meiner Meinung nach unsere stärkste Kraft, um Wissen zu vermitteln. Das Rätselraten und die intellektuelle Herausforderung fesseln die Aufmerksamkeit bis zum Schluss.
Die Gesellschaft für Lehre in der Medizin, kurz GLM, ist ein Zusammenschluss junger Mediziner:innen aus dem deutschsprachigen Raum, welche die medizinische Lehre fördern und erneuern möchten. In vielen Bereichen ist die Lehre ein bisschen eingeschlafen, die Zeiten vollgepackter Hörsäle sind vorbei, und das finden wir schade. Unser Ziel ist es, das Interesse an der Lehre neu zu entfachen. Wir glauben, Lehre kann und soll unterhalten, Lehre muss spannend sein. In anderen Ländern, etwa in den USA, wird Lehre großgeschrieben – am Patientenbett wie auch an der Universität. Karriere mit Lehre ist dort ein eigener, gut etablierter Weg. Die GLM bietet eine Plattform für engagierte Personen, die langfristig sowohl die universitäre als auch die digitale Lehre stärken und sie auf ein neues Niveau heben möchten. Neben finanzieller Unterstützung fördert die GLM den Austausch von Ideen und gegenseitige Motivation.
Die Mitglieder der GLM – fertig ausgebildete Ärzt:innen, die an Universitäten und Krankenhäusern tätig sind – unterstützen lokal verschiedene Wahlfächer an medizinischen Universitäten. So gibt es an der Medizinischen Universität Graz das freie Wahlfach „Vom Symptom zur Diagnose“ oder an der Medizinischen Universität Wien das von mir geleitete freie Wahlfach „Symptome und Differenzialdiagnosen“. In diesem Wahlfach erzähle ich Geschichten von spannenden Fällen aus dem klinischen Alltag und versuche so, die nächste Generation an Ärzt:innen für die Medizin zu begeistern. In Düsseldorf leitet Dr. Alex Zaufel ein gleichnamiges Wahlfach.
Ein weiteres Projekt – vielleicht das Herzstück der GLM – ist die wöchentlich veranstaltete Online-Falldiskussion „Vom Symptom zur Diagnose“, die im Nachgang auch auf YouTube angeschaut werden kann. Mit diesen Angeboten möchten wir die medizinische Aus- und Weiterbildung praxisnäher und spannender gestalten.
Die Faszination für spannende Fälle und medizinische Rätsel zieht sich wie ein roter Faden durch meine medizinische Laufbahn. Geweckt wurde sie 2019 in einem Hörsaal der Medizinischen Universität Graz durch das bereits erwähnte Wahlfach „Vom Symptom zur Diagnose“, und als ich später an der Charité in Berlin studierte und als Tutor für Innere Medizin arbeitete, vertiefte sich mein Interesse weiter. Eine große Inspiration war und ist mir auch Professor Falko Skrabal mit seiner großen Begeisterung für spannende klinische Fälle. Ich habe entdeckt, dass mir die klinische Arbeit durch die Linse des Rätselratens sehr viel leichter fällt – plötzlich ist alles spannend. Fallbasiertes Lernen war für mich ein Wendepunkt und ist heute ein zentraler Bestandteil meiner Arbeit. Die Zusammenarbeit mit anderen passionierten Jungmediziner:innen macht großen Spaß: Die wöchentliche Falldiskussion haben Dr. Samy Mady, Dr.in Lea Bischof und ich gemeinsam ins Leben gerufen, und wir motivieren uns jede Woche gegenseitig, das Projekt weiterzuführen.
Die wöchentliche Falldiskussion über Zoom läuft so ab, dass eine Person einen klinischen Fall in kleinen, aufeinander aufbauenden Schritten präsentiert. Zwei andere diskutieren den Fall „blind“, ohne vorherige Informationen. So entsteht ein authentischer Gedankenaustausch. Die Teilnehmenden können sich währenddessen im Chat austauschen. Durch diesen Dialog entfaltet sich Schritt für Schritt eine Geschichte – vom Leitsymptom über Anamnese, klinische Befunde und Bildgebung bis hin zu spezifischeren Untersuchungen. Am Ende steht die Auflösung: Die Person, die den Fall präsentiert hat, fasst das Wichtigste in einer kurzen Fortbildung zusammen.
Mit diesem Fortbildungsformat möchten wir einen „sicheren Raum“ schaffen, in dem man Fragen stellen kann und soll und in dem man auch zugeben kann, dass man etwas nicht weiß. Diese Sicherheit schafft eine positive Atmosphäre, in der wir voneinander lernen können. Regelmäßig laden wir auch erfahrene Ärzt:innen – Koryphäen auf ihrem Gebiet – als Diskutant:innen ein. Wenn die dann ihre Expertise und langjährige Erfahrung in die Diskussion einbringen, ist das für uns junge Ärzt:innen sehr bereichernd. Im Klinikalltag vermissen wir es oft, Patientenfälle mit erfahreneren Kolleg:innen besprechen zu können und ihnen „beim Denken zuzusehen“. Dieses Erlebnis simulieren wir in unseren Falldiskussionen, und es wird extrem gut angenommen.
Lust bekommen, an unserer interaktiven Falldiskussion teilzunehmen? Einfach per E-Mail anmelden (falldiskussion(at)gmail.com), um einen Teilnahme-Link zu erhalten. Alle Falldiskussionen sind außerdem auf YouTube zu finden (Falldiskussionen VSzD).
In der ärztlichen Ausbildung werden oft die einzelnen Krankheitsbilder gelehrt. Wenn wir mit diesem Wissen aber dann in die Arbeit kommen, sehen wir Patient:innen mit einem bestimmten Symptom, von dem ausgehend wir über verschiedene diagnostische Schritte zu einer Diagnose gelangen sollen. Daher ist das problemorientierte Lernen eigentlich ein viel sinnvolleres Lernen. Es nutzt die Kraft des Geschichtenerzählens, mit dem Vorteil, dass in Geschichten eingebettetes Wissen besser im Gedächtnis bleibt und leichter abrufbar ist. Wer bereits ärztlich tätig ist, weiß: Der größte Wissenszuwachs kommt von Patient:innen, die man selbst gesehen und behandelt hat. Fallbasiertes Lernen simuliert genau das. Außerdem fördert es die Fähigkeit, erlernte Konzepte auf neue Probleme anzuwenden. Dadurch wird aus reinem Faktenlernen lebendige angewandte Medizin.
Ich bin davon überzeugt, dass sich die medizinische Lehre und die Anwendung von Wissen in den kommenden Jahren grundlegend verändern werden Durch die extremen Fortschritte bei künstlicher Intelligenz wird es möglich sein, in Bruchteilen von Sekunden auf enormes Wissen zuzugreifen, schon jetzt leben wir in einer Zeit des Informationsüberflusses. Der Fokus wird sich daher meiner Meinung nach vom reinen Auswendiglernen hin zur Anwendung von Wissen in realen Situationen verschieben. Interaktive und fallbasierte Lernmethoden, die klinisches Denken und Problemlösungskompetenz fördern werden weiter an Bedeutung gewinnen, denn diese Fähigkeiten werden auch in Zukunft – unabhängig von KI – unverzichtbar bleiben.
Gleichzeitig darf und soll Lehre auch unterhalten. Formate wie Meditricks oder US-amerikanische medizinische Podcasts zeigen, wie erfolgreich ein lebendiger Zugang sein kann.
Zuletzt sei gesagt: Digitalisierung, Virtual Reality und Simulationen werden ihren Platz finden, ohne den menschlichen Faktor zu ersetzen: Empathie, klinisches Urteilsvermögen und die Fähigkeit, komplexe Situationen zu meistern, bleiben Kernkompetenzen, die zukünftige Generationen von Ärzt:innen auszeichnen werden.