Welche Rolle die Transformation von „Dr. ÖGK statt Dr. Google“ spielt und wo dabei die großen Herausforderungen liegen, die es zu meistern gilt, beschreibt er im Gespräch mit AUSTROMED-Präsident Gerald Gschlössl und AUSTROMED-Geschäftsführer Mag. Philipp Lindinger.
Auf welche Aufgaben freuen Sie sich in Ihrer neuen Position am meisten?
Ich bin seit Mitte Jänner der neue Vorsitzende des Verwaltungsrates der Österreichischen Gesundheitskasse sowie einer der beiden Konferenzvorsitzenden im Dachverband der Sozialversicherungen und freue mich sehr auf die bevorstehenden Jahre. Nach meiner Zeit in der Politik und sieben Jahren in der Privatwirtschaft bei Johnson & Johnson MedTech freue ich mich, meine Erfahrungen und die innovativen Ansätze in die Sozialversicherung zu tragen. Ich möchte, dass unsere 7,6 Millionen Kundinnen und Kunden die bestmögliche Behandlung erhalten – unabhängig von Alter, Wohnort, Herkunft oder sozialem Status. Die Stärke der Österreichischen Gesundheitskasse liegt auch in ihrer umfangreichen regionalen Ausprägung, etwa durch rund 150 Kundenservicestellen und durch die medizinische Expertise in den insgesamt 89 Gesundheits-, Zahngesundheits- und Therapiezentren.
Welche Schwerpunkte setzen Sie in Ihrer neuen Funktion?
Die öffentliche Gesundheit in Österreich muss gegenüber der privaten wieder wettbewerbsfähig werden: Durch qualitätsgesicherte Informationen am Handy im Sinne von „Dr. ÖGK statt Dr. Google“, gleichzeitig müssen telemedizinische Angebote ausgeweitet werden, sodass Versicherte innerhalb von 30 Minuten mit einer Ärztin oder einem Arzt telefonieren können, und mithilfe einer neuen Offensive für Facharztzentren mit multidisziplinärem Ansatz und langen Öffnungszeiten. Unsere Versicherten sollen schnell und unkompliziert die Behandlung bekommen, die sie benötigen. Entscheidend ist dabei auch, dass sie eine gute Orientierung innerhalb des Systems erhalten.
Wo liegen aktuell die größten Herausforderungen?
Es gibt vier große Herausforderungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Das ist zuerst einmal die Demografie: In Österreich leben aktuell 50 % mehr über 65-Jährige als noch vor 20 Jahren, die insbesondere im Alter eine verstärkte Versorgung benötigen. Diese wollen wir auch bereitstellen und den medizinischen Fortschritt allen zur Verfügung stellen. Der Fortschritt mit neuen, innovativen Behandlungsansätzen und Medikamenten ist jedoch auch ein struktureller Kostentreiber.
Auf der wirtschaftlichen Seite gilt es, die Unternehmen zu entlasten, denn nur eine starke Wirtschaft kann stabile Beiträge und somit Einnahmen für die Sozialversicherung garantieren. Innerhalb des Gesundheitssystems erleben wir außerdem eine immer weiter fortschreitende Ambulantisierung. Das ist eine gute Entwicklung, denn es bedeutet, dass Menschen niederschwelliger versorgt werden, die Ambulantisierung muss jedoch systemische Anpassungen mit sich bringen: Geld muss Leistung folgen.
Wie würden Sie den aktuellen Zustand des Gesundheitssystems bewerten?
Das österreichische Gesundheitssystem genießt nach wie vor einen ausgezeichneten internationalen Ruf und zählt zu den besten der Welt. Es zeichnet sich durch einen hohen Versorgungsstandard, umfassende Zugänglichkeit und eine flächendeckende medizinische Betreuung aus.
In den letzten 20 Jahren haben sich die Investitionen in Gesundheit verdreifacht, trotzdem haben die Menschen das Gefühl, dass der Zugang zum Gesundheitssystem schlechter geworden ist. Gesundheit ist auch nicht ohne Grund eines der wichtigsten Themen für die Bevölkerung. Wir brauchen rasch niederschwellige Lösungen, die die Menschen dort abholen, wo ihre Pro-bleme sind. Das bedeutet zum Beispiel, dass das Versorgungsangebot zu Randzeiten und am Wochenende ausgeweitet wird.
Unser System ist jetzt 70 Jahre alt und muss jetzt gemeinsam strukturell verbessert werden. Wir sind unter anderem aktuell in Gesprächen mit der Ärztekammer zum Umbau des Vertragswesens, in denen wir neue Versorgungsmodelle definieren und Modernisierung vorantreiben möchten, von denen alle profitieren.
Sie wollen Digitalisierung und Telemedizin einsetzen, um das Gesundheitssystem zu transformieren. Wo steht Österreich hier?
Österreich war mit der Einführung der e-card ein internationaler Vorreiter. Ihr volles Potenzial als Basis für die digitale Gesundheitsversorgung wurde jedoch nicht ausgeschöpft. Sie muss mit mehr innovativen Produkten beladen werden, wie es schon bei e-Rezept und Bildgebung aus der Radiologie vorgezeigt wurde, um auch in Zukunft eine zentrale Rolle in der Architektur spielen zu können.
Wie auch in anderen Lebensbereichen wird die Digitalisierung ein Schlüssel sein, wie wir ortsunabhängig und schnell Hilfe und Orientierung geben können. Einerseits durch qualitätsgesicherte Informationen am Handy für eine „Hilfe zur Selbsthilfe“ und auch einfache neue Wege, um innerhalb von 30 Minuten mit einem Arzt zu sprechen.
Als Sozialversicherung müssen wir proaktiv mit neuen Technologien umgehen und Best Practices entwickeln. Es ist erfreulich, dass wir zum Beispiel mit dem Da Vinci OP-Roboter im Hanusch-Krankenhaus der ÖGK die Erholungszeiten von OPs verkürzen konnten. Gleichzeitig wollen wir aber auch in der Bilderkennung auf künstliche Intelligenz setzen, die Ärztinnen und Ärzte in ihrer Arbeit unterstützen kann.
Wann kommen die ersten Apps auf Rezept in Österreich?
Ich habe schon in der Vergangenheit die Entwicklung von DiGA, den digitalen Gesundheitsanwendungen, unterstützt, konkret bei mySugr zur Unterstützung von diabeteskranken Menschen. Insbesondere bei chronischen Krankheiten, die ein Zusammenspiel von vielen Gesundheitsberufen erfordern, können Apps der Schlüssel für eine datenbasierte, langfristig ausgelegte Behandlung und Versorgung sein.
Wir wissen auch, dass die Mitwirkung von Patientinnen und Patienten in ihrer Versorgung ein Schlüsselfaktor für den Erfolg ist, so sind zum Beispiel auch in der Nachsorge „Patient Reported Outcome Measures“, die man digital erfassen kann, ein Weg, um die Behandlungen zu optimieren. Das muss der Gedanke hinter DiGA sein: eine Unterstützung im täglichen Leben bei chronischen Erkrankungen und eine Möglichkeit, seine Erfahrungen leicht und strukturiert zu teilen.
Das Thema Apps ist auch aus internationaler Perspektive ein Schlüsselthema – jeden Tag werden Hunderte Health Apps in AppStores hinzugefügt, es gibt in der Bevölkerung ein massives Interesse am Tracking ihres Gesundheitszustandes. Viele dieser Apps kommen aktuell aus den USA oder anderen Regionen der Welt mit weniger hohen Datenstandards als Österreich und die EU. Wenn der österreichische Markt es schafft, im Bereich der digitalen Anwendungen gute Angebote zu schaffen, kann man der Bevölkerung durch Datensicherheit einen Mehrwert bieten und ihrem Interesse Rechenschaft tragen.
Innovative Medizinprodukte haben es schwer, in die Erstattung zu kommen. Wie werden Sie damit umgehen, dass nicht „alle alles bezahlt bekommen“ können und Innovation nicht so schnell zu den Patientinnen und Patienten kommt?
Ich bin stolz darauf, dass Österreich neben Deutschland das einzige Land ist, das im Bereich der innovativen teuren Medikamente die volle Innovationskraft des Marktes an die Versicherten weitergibt. Das ist nicht selbstverständlich und etwas, das es zu erhalten gilt. In der Sozialversicherung machen 0,8 % der Verschreibungen über 40 % der Kosten pro Jahr aus – das ist gut und zwar teuer, aber es ist mir ein Anliegen, auch in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten nicht an der modernen, umfassenden Versorgung der Patientinnen und Patienten zu sparen.
Die Finanzierung der Gesundheitsversorgung steht vor großen Herausforderungen. Welche Reformansätze halten Sie für notwendig?
Das oberste Ziel ist es, Wartezeiten auf dringende OPs zu reduzieren und den Zugang zu raschen Arztterminen zu ermöglichen. Wir müssen Entlastung durch Hilfe zur Selbsthilfe und einfachen digitalen Einstiegen vorantreiben. Gleichzeitig braucht es neue Versorgungskonzepte, mit denen wir der steigenden Ambulantisierung gerecht werden: Hier können fächerübergreifende Facharztzentren einen wichtigen Beitrag leisten, die wir gemeinsam mit den Bundesländern finanzieren wollen.
Wie bewerten Sie die Rolle von Wahlärztinnen und -ärzten bei der Gesundheitsversorgung?
Um rasche Arzttermine und gutes Service zu garantieren, muss das öffentliche System wieder wettbewerbsfähig werden und attraktiv für Ärztinnen und Ärzte sein, egal ob angehende oder aktuell als Wahlärztin oder -arzt praktizierende. Das ist eine Herausforderung, die wir gemeinsam mit der Ärztekammer angehen.
Ein Angebot, das gut angenommen wird, sind die Primärversorgungszentren, die innovative neue Formen der Zusammenarbeit von Ärztinnen und Ärzten untereinander und mit weiteren Gesundheitsberufen ermöglichen. Als ÖGK wollen wir den Ausbau dieser Zentren weiter vorantreiben und auch einen Fokus auf Fachgebiete mit aktuell schwierigerem Zugang wie Frauenmedizin und Kinderversorgung setzen.
Der Mangel an Ärztinnen, Ärzten und Pflegepersonal ist ein drängendes Problem. Welche Maßnahmen kann die ÖGK zur Attraktivierung dieser Berufe beitragen?
Der Fachkräftemangel ist eine große Herausforderung, andererseits auch eine Chance, unsere Mittel nun effizienter und wirksamer einzusetzen. Wir sind gefordert, die Möglichkeiten der Digitalisierung besser zu nutzen, um damit die Qualität der Versorgung und auch das Service zu verbessern.
Welche Initiativen plant die ÖGK im Bereich Prävention?
Vorsorge ist mir ein besonderes Anliegen. Ich habe bereits vor zehn Jahren in der Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft das Vorsorgeprogramm „Selbständig Gesund“ eingeführt. Dort werden die belohnt, die sich proaktiv, selbst um ihre eigene Gesundheit kümmern. Unser Ziel muss es sein, den Menschen mehr gesunde Lebensjahre zu ermöglichen und Krankheiten bzw. Krankenstände zu verhindern. Ich werde mich auch in meiner Funktion als ÖGK-Vorsitzender für einen Fokus auf Prävention einsetzen. Mit der Expertise der ÖGK sollen wir zu mehr Bewegung und einem gesunden Lebensstil motivieren, unterstützen und unsere Kundinnen und Kunden dabei begleiten.
Wenn Sie zehn Jahre in die Zukunft blicken: Wie sieht die Gesundheitsversorgung in Österreich idealerweise aus?
Dank Digitalisierung bieten wir niederschwellige und rasche Hilfe zur Selbsthilfe, idealerweise durch künstliche Intelligenz unterstützt: 24/7, 7 Tage pro Woche am Handy. Wenn notwendig, kann man innerhalb von 30 Minuten mit einer Ärztin oder einem Arzt sprechen, die Orientierung und gezielte Empfehlungen geben.
Primärversorgungseinrichtungen sowie spezialisierte Facharztzentren – etwa für Schmerztherapie oder Diabetes – haben flächendeckend von Montag bis Samstag zwischen 7 und 19 Uhr geöffnet. Dadurch werden Spitalsambulanzen deutlich entlastet, sodass stationäre Aufnahmen, Operationen und dringende Facharzttermine rascher erfolgen können.
Österreichweit sind Leistungen sowie Honorare harmonisiert und Ärztinnen und Ärzte haben einen Versorgungsauftrag unabhängig von Bundeslandgrenzen. Eine zentrale Steuerung des Gesundheitssystems sorgt für eine effiziente Koordination zwischen Spitälern und niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, sodass Patientinnen und Patienten überall im Land die gleiche, hochwertige Versorgung erhalten.
Wenn wir das Interview in einem Jahr wiederholen – worauf werden Sie dann besonders stolz sein?
Darauf, dass jede Österreicherin und jeder Österreicher ein bis zwei gesunde Lebensjahre mehr zu Verfügung haben wird und wir die Krebstoten hoffentlich halbiert haben werden.