Im Bereich der Transkulturellen Psychiatrie scheint Trauma und Migration ein naheliegendes Thema zu sein, das keiner weiteren Erklärung bedarf. Es befinden sich hier aber zwei verschiedene Phänomene in einer zwingenden Beziehung zueinander und die Frage nach der Art dieser Beziehung scheint mir interessant:
Wir wissen, was Trauma umgangssprachlich bedeutet und können auf verschiedene fachliche Definitionen zurückgreifen. Und wir wissen, was Migration ist. Migration ist kein Minderheitenphänomen mehr, sondern in den letzten Jahren ein gesellschaftliches Phänomen geworden, das alle Bereiche der Gesellschaft erfasst. Stichwörter: “Zuwanderungsgesellschaft”, “Integration” “Flüchtlinge”. Ein Phänomen, das sehr heftige Affekte auslöst und mit dem auch Wahlen gewonnen oder verloren werden können. Es ist ein Phänomen der globalisierten Welt, wo Lebensläufe in einem eng definierten und vertrauten Umfeld – von der Wiege bis zum Grab am selben Ort – aufhören, allgemeingültig zu sein. Migration ist aber auch ein historisches Phänomen. Immer wieder haben Migrationswellen aufgrund von Hungersnöten, Verfolgung und Krieg die Landkarten durchmischt und kulturelle Zugehörigkeiten verändert.
Und da ist schon das Problem: Migration ist nicht gleich Migration.
Welche Arten von Migrationen gibt es? Ist Migration an sich traumatisch? Wann ist eine Migration traumatisch? Kann sie protektiv sein oder sogar Entwicklungen fördern? Was kann zum Gelingen einer Migration beitragen oder zu deren Scheitern führen? Was kann helfen, das Trauma zu integrieren oder zu lindern? Immer hat Migration eine persönliche und eine gesellschaftliche Dimension.
Gründe für eine Migration können freiwillig, gewollt und mit Vorteilen verknüpft sein, die realisiert werden können oder auch nicht. Oder unfreiwillig: Flucht ist immer mit existenzieller Bedrohung verbunden und mit Ausgrenzung, sei es als Gruppe, sei es als persönliches Exil. Ein politischer Flüchtling hat einen schwierigen, zum Teil retraumatisierenden Anerkennungsprozess vor sich, sein Beweggrund ist aber international anerkannt und legitimiert die Migration. Schwer haben es aber auch die, die der Not ihres Landes entkommen wollen. Europa stellt eine Verheißung dar, die von vielen mit dem Leben bezahlt wird. Wenn das Überleben gesichert ist, dann beginnen die Fragen des Lebens.
Die Psychiatrie ist an beiden Seiten gefragt und wird vor sehr unterschiedliche Aufgaben gestellt. Dort, wo das Leben in der Warteschleife stattfindet, wo der Aufenthalt nicht gesichert ist oder wo es um das nackte Überleben geht, stehen andere Probleme im Vordergrund.
Erst wenn eine – womöglich sehr bescheidene – Sicherheit und Ordnung gewährleistet ist, können wir vom Trauma in der Vergangenheit sprechen. Erst dann können wir das Ausmaß des Traumas feststellen und über Maßnahmen zur Erfassung und zur Linderung sprechen. Und doch kommt zu dem in der Vergangenheit erlebten Trauma oft auch das gerade stattfindende. Retraumatisierung versucht das traumatische einer Situation in der Verknüpfung mit einem Trauma in der Vorgeschichte zu erfassen. Jede Migration stellt eine Krise und eine Herausforderung dar. Sogar dort, wo sie Teil eines angestrebten Lebensentwurfs ist, unter kulturell und materiell priviligierten Bedingungen, die persönliche Erfüllung und Entwicklung ermöglichen. Erst recht, wenn sie durch Not oder lebensbedrohliche Umstände erzwungen ist. Erst recht, wenn die Migration durch Verlust, Gefahr, Unsicherheit und Entbehrungen geprägt ist. Erst recht, wenn sie in ein Niemandsland führt oder eine Sackgasse. Zum Beispiel in ein fremdes Land, das mit seinen Möglichkeiten lockt, ohne aber die Türen zu öffnen, oder in ein fremdes Land, das nicht recht weiß, was mit dem Fremdling anzufangen. Oder in ein Land, das außer Gewalt und Missachtung einem nichts entgegenbringen kann.
Hier zeichnet sich die Verbindung zwischen Migration und Trauma ab: Die traumatischen Situationen, die zu einer Migration führen können, die traumatischen Bedingungen einer Migration, die traumatischen Erfahrungen, die in einem fremden Land stattfinden können. Parallel zur Gesellschaft ist die Psychiatrie zunehmend gefordert, sich diesen Themen und Herausforderungen zu stellen. So entstehen Gesellschaften für transkulturelle Psychiatrie, werden Kongresse veranstaltet, Lehrbücher und Fachpublikationen herausgegeben. Es haben sich Vereine und Institutionen entwickelt, die sich vorwiegend oder ausschließlich Menschen mit diesen Erfahrungen widmen. Aber auch der sogenannte Regelbetrieb ist gefordert, wie beispielsweise die in mehreren Sprachen aufliegenden Folder in Spitälern und sozialen Einrichtungen zeigen.
ESRA ist eine Ambulanz, die sich auf die Spätfolgen und Erkrankungen des Holocaust- und Migrationssyndroms spezialisiert hat und die für die betroffenen Patientengruppen ein Zentrum für psychosoziale, soziotherapeutische und soziokulturelle Integration darstellt.
In unseren Erfahrungen bei ESRA hat sich herauskristallisiert, dass die Schule ein besonders sensibles Feld darstellt. In der Schule werden die Kinder nicht nur mit der Gesellschaft, in der sie aktuell leben, mit ihren Angeboten, Erwartungen und Anforderungen konfrontiert, sondern auch mit ihrer Kulturzugehörigkeit und ihrer Familiengeschichte. Dies gilt für Kinder mit Migrationserfahrung und ebenso für die Kinder der “zweiten Generation”, deren Situation komplex und undurchsichtig ist. Diese haben möglicherweise immer im selben Land gelebt, sind aber Träger nicht verarbeiteter Brüche und unausgesprochener Sehnsüchte der Elterngeneration. Sie werden natürlich auch mit der aktuellen Kultur im Alltag mit Gleichaltrigen konfrontiert und an ihnen gemessen.
Trauma wie Migration sind Phänomene, die potentiell gefährliche transgenerationelle Prozesse in Gang setzen können. In der Kinder- und Jugendabteilung von ESRA erleben wir ein Spektrum, das von der psychischen Problematik des Einzelnen, über das Kind als Symptomträger einer durch multiple kumulierte Traumata pathologischen Familiendynamik bis hin zu eskalierenden Konflikten innerhalb der Klasse und Schule reicht. Die enge Zusammenarbeit mit Schule und Familie erweist sich als eine ideale, wenn auch nicht leicht herzustellende Basis für eine sinnvolle Abklärung und Behandlung.
Die Maßnahmen, die wir setzen, umfassen psychiatrische und psychotherapeutische Angebote (psychologische Testung, kinderpsychiatrische Abklärung im engeren Sinn, wenn indiziert, Einzelpsychotherapie, problembezogene Gruppentherapie, Beratung der Eltern, wenn indiziert auch Abklärung und Betreuung der Eltern, Familientherapie, Reflecting Team).
Aber auch für die Schulen stellt das Kinder- und Jugendteam von ESRA eine wertvolle Ressource dar. Kriseninterventionen in der Schule sowie Klassenprojekte innerhalb der Schule haben sich als notwendige Maßnahmen erwiesen. Unsere Expertise als eine Einrichtung, die mit der Realität und Problematik der Kinder, der Familien und der Institution “Schule” vertraut ist, hat sich als hilfreich gezeigt und bewährt sich zunehmend. Für diese komplexen Anforderungen ist ein multiprofessionelles Team unabdingbar. Das Pendeln zwischen fachspezifischer und fachübergreifender Sicht stellt eine große Anforderung an das Team dar.
Vielfache logistische Probleme sind alltäglich zu bewältigen. In einem im Wesentlichen abgesicherten Rahmen, begleitet von Supervision und vielfältigen Weiterbildungsangeboten, erleben auch wir ein herausforderndes Kräftefeld, wiewohl es nicht annähernd so komplex und kräfteaufzehrend ist wie das der Betroffenen selbst. Die Balance zu halten zwischen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Perspektive und derjenigen der Schule ist nicht immer einfach, aber lohnenswert, weil sie Entwicklungen eröffnet.
Trauma ist ein potentiell gefährliches, transgenerationelles Phänomen. Und “die zweite Generation” scheint eine besondere Vulnerabilität für psychische und psychiatrische Störungen zu haben. Kindergarten und Schulen sind nicht nur die besten, sondern die einzigen Felder, die sich für Primärprävention im breiten Maße anbieten. Bildung sowie Zugang zum sozialen und kulturellen Umfeld zu schaffen ist Prävention und heißt protektive Faktoren zu stärken. Die Aufgaben weisen über den Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie, der Beobachtung, Benennung, Erforschung und Behandlung von psychischen Störungen hinaus.
Gleichzeitig sehe ich mich genötigt, über meinen Tellerrand hinauszublicken, denn Migration ist nicht allein ein Phänomen des Einzelnen mit seinem persönlichem Leiden und der notwendigen Begegnung dieses Leidens. Und Trauma, durch seine – per definitionem traumatische – Einwirkung der Umwelt auf das Individuum, sensibilisiert immer auch maßgeblich für Umweltanforderungen und Umstände.
Migration findet zugleich in einem soziokulturellen Kontext statt und erfordert Maßnahmen der Gesellschaft. Diese kann einen Prozess fördern, der Entwicklung für das Individuum und die Gesellschaft ermöglicht – oder nichts tun und das Scheitern des Einzelnen, sein persönliches Leid und seine eventuelle Retraumatisierung ignorieren.
Dies würde aber auch den Preis, den eine Gesellschaft zu zahlen hat, wenn es sich diesen komplexen Problemen nicht stellt, ignorieren: nämlich, dass menschliche und ökonomische Ressourcen verschleudert werden.