Die menschliche Kulturgeschichte ist auch eine Geschichte der Drogen. Rausch, Ekstase und Suchtmittel, deren Vielfalt in den letzten Jahrzehnten zugenommen und deren Verfügbarkeit nahezu universell geworden ist, bilden seit jeher einen permanenten, aber sich stets wandelnden Bestandteil unserer Kultur. Alkohol mit seine vielfältigen Funktionen und mannigfachen Wirkungen war das zentrale Element der Dionysoskulturen. Kokain, “das Götterbrot, welches die Hungrigen sättigt, die Müden ermuntert und die Traurigen erheitert”, dominierte die südamerikanischen Indianerkulturen und fand im Laufe der Geschichte immer wieder Eingang in Künstler- und Intellektuellenkulturen.
Die “Nachtkultur” und alles, was mit ihr assoziiert ist, wäre ohne Kokain nicht denkbar. Opiate und Cannabis spielen in der medizinischen Heilkultur seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle. Marihuana hat in der Hippiekultur eine ähnliche Bedeutung gehabt wie die diversen halluzinogenen Substanzen in der zwischenzeitlich in Verruf geratenen psychedelischen Kultur. Wichtige Beispiele aus neuerer Zeit sind Amphetamine und Leistungskultur, Halluzinogene und Popkultur, Ecstasy und Technokultur oder Binge-Trinken und Ballermann-Kultur. Wie dramatisch sich die Lösung eines suchtgefährdenden Verhaltens aus einem – wenn auch bescheidenen – kulturellen Kontext, nämlich jenem des gepflegten Casinos oder Spielsalons, auswirken kann, zeigt die Entwicklung des Glückspiels und der Spielsucht in Zeiten der Spielautomaten und des Internets. Ein Spiegelbild der jahrtausendealten Alkoholkultur liefert die Bibel. Die erste kasuistische Darstellung einer Alkoholberauschung findet sich im Buch Mose (9, 20-27), wo es heißt: “Noah, der Landmann, begann die Weinrebe zu pflanzen. Als er vom Weine trank, wurde er berauscht und lag entblößt im Inneren seines Zeltes …” Alkohol wird im Alten Testament positiv und negativ bewertet, er wird besungen und dämonisiert, an vielen Stellen aber auch realistisch-differenziert dargestellt. In einzelnen Schriftstellen wird seine medizinische und psychopharmakologische Bedeutung hervorgehoben und das Problem des Alkohols in der Schwangerschaft oder im Alter angesprochen. Er wird als Geschenk Gottes beschrieben: “Wohlan denn, iss fröhlich dein Brot und trinke wohlgemut deinen Wein! Denn von jeher gefällt es Gott, wenn du so tust” (Prediger 9, 7), andererseits mit seinen negativen Auswüchsen als Übel beklagt: “Wehe denen, die im Weinvertilgen Helden sind und tapfer beim Mischen des Rauschtranks …” (Jesaja 5, 22) Die Bibel erfasst in ihrer manchmal geradezu modern wirkenden Sichtweise die kulturell- gesellschaftliche Bedeutung, gesundheitliche Vor- und Nachteile, präventive Aspekte oder psychopathologische Phänomene und widmet sich auch dem Umgang mit suchtkranken Menschen. Mit den Begriffen “Zornwein” (Offenbarung 14, 8) oder “Wein der Gewalttat” (Sprüche 4, 17) wird der Zusammenhang zwischen Alkohol, Emotion und Aggression, an anderer sogar die Gefahr im öffentlichen Verkehr angesprochen: “Er trinkt sich so leicht … du bist wie einer, der einschläft über dem Steuer des Schiffes.” (Sprüche, 35)
Insgesamt betrachtet die Bibel, in der die Bedeutung des Weines beim Abendmahl den Höhepunkt schlechthin darstellt, den Alkohol sehr differenziert, sieht seine vielen guten und schlechten Seiten und appelliert, der gesellschaftlichen Realität entsprechend, an einen verantwortungsvollen, kultivierten Umgang. Sie erzieht gleichsam zur Alkoholmündigkeit und zur Alkoholkultur. Vornehmlich in Künstlerkreisen haben sich Absinth- oder Kokainkulturen gebildet. Unverkennbar ist der Zusammenhang zwischen Ess-Brech-Störungen und Modekultur oder zwischen Designerdrogen und manchen Jugendkulturen.
In der klassischen Grundeinstellung zum Alkohol nach Bales (1946), die sich auch auf andere psychotrope Substanzen übertragen lässt, wird neben dem sozial-konvivialen und dem utilitaristischen Konsum vor allem der rituell-kulturelle Konsum hervorgehoben. Bei diesem ist das Trinken in ein bestimmtes Zeremoniell eingebaut, von der sakralen Handlung bis hin zu Trinkzeremonien bei offiziellen öffentlichen oder privaten Feiern. Der Alkoholkonsum unterliegt damit einer wirksamen kulturell-sozialen Kontrolle.
Bales (1946) unterscheidet vier Kulturformen des gesellschaftlichen Umgangs mit Rauschmitteln: Abstinenzkulturen mit dem Verbot jeglichen Genusses. Ambivalenzkulturen, welche durch einen Konflikt zwischen koexistenten Wertstrukturen gegenüber dem Alkohol geprägt sind. Permissivkulturen, die den Alkoholgenuss billigen, aber Trunkenheit und andere pathologische Erscheinungen des Konsums ablehnen, sowie funktionsgestörte Permissivkulturen, in denen nicht nur der “normale” Konsum, sondern auch Rausch und Exzess toleriert werden. Innerhalb dieser großen Kulturformen gibt es verschiedene Subkulturen, etwa die Trinkfreudigkeit mancher Studentenorganisationen, die zeitlich gebundene soziale Akzeptanz erhöhten Konsums (Fasching), aber auch die Alkohol- und Drogengegnerschaft mancher Bewegungen.
In einer pragmatisch vereinfachten Typologie werden “nasse” und “trockene” Kulturen unterschieden. Dazu kommt die oft vernachlässigte, aber gerade für Prävention und Therapie sehr maßgebende kulturelle Wertschätzung (cultural position) des Drogengebrauchs. Eine differenzierte Position sieht man in der antiken griechischen Kultur, wo der Rausch als “ästhetisches” Problem betrachtet wurde. “Gebührendes Trinken” galt als menschlich, anständig und aristokratisch, volle Berauschung hingegen als hässlich, verweichlichend und ursächlich für soziale Zerwürfnisse. Der Exzess wurde in der “Anthesteria”, dem Fest für den Wein, zeitlich begrenzt toleriert. Plato und seine Schüler nahmen eine viel strengere Position ein und lehnten Rausch- und Süchtigkeit ab. Die von ihnen geforderte rigorose intellektuelle Anstrengung lässt keinen Platz für undiszipliniertes Trinken, enthemmtes Verhalten, für Rausch und Entrückung zu. Die klassische Periode der griechischen Philosophie stand gleichsam unter dem Motto “Sieg der Rationalität über die Ekstase”.
In der weiteren Geschichte der Philosophie, welche die Kultur prägte und ihrerseits von vielen kulturellen Strömungen beeinflusst war, findet man höchst unterschiedliche Haltungen zu Genuss, Lust, Rausch und Sucht. Es überrascht, dass der als asketisch geltende Immanuel Kant den Weinkonsum zur Förderung kultivierter Konversation tolerierte, obwohl er ansonsten kein Verständnis für “evoziertes, geträumtes Wohlbefinden” hatte.
Die Frage ist, ob zwischen den drei großen politisch-rechtlichen Umgangsformen mit psychotropen Substanzen, die sich zwischen Prohibition, Liberalisierung und Legalisierung bewegen, Platz für die Suchtkultur bleibt.
Selbst in der klassischen WHO-Definition der Abhängigkeit wird die Bedeutung kultureller Faktoren betont: “Abhängigkeit entsteht aus einem Zusammenwirken von genetischen Faktoren, Umwelteinflüssen, in besonders empfindlichen Phasen der Gehirnentwicklung sowie sozialer und kultureller Faktoren.”
Alkohol, Rauschdrogen, Trinkende und Betrunkene, Berauschte und Süchtige haben auf Künstler von jeher große Faszination ausgeübt. Unzählige bildnerische, musikalische und literarische Werke geben Zeugnis davon. Genannt seien nur die vielen Darstellungen der Hochzeit zu Kana oder der trinkenden Frauen durch Pablo Picasso, die “Kultbücher” über Cannabis und LSD, die drogenverherrlichenden Popsongs, die Zeugnisse von Gottfried Benn über Kokain (“Den Ich-Zerfall, den süßen, tief ersehnten den gibst du mir. Schon ist die Seele rau. Schon ist der fremde Klang an unerwähnten Gebilden meines Ichs am Unterbau …”) und die eindrucksvollen phänomenologischen Beschreibungen der Spielsucht durch Dostojewski: “Bald hatte ich begriffen, dass es sich hier nicht um eine einfache Willensschwäche handelt, sondern, dass das Spiel eine alles verzehrende ungestüme Leidenschaft, eine Elementargewalt war.”
Rausch und Sucht gehören aber auch zur Person des Künstlers. Nicht nur die Depression, sondern auch die Abhängigkeit ist die Erkrankung des Künstlers. Suchtmittel werden zur Anregung der Phantasie und zur Steigerung der Kreativität, zur Überwindung depressiver Phasen und unproduktiver Perioden, zum Schutz gegen Kritik und Kränkungen, letztlich auch zur Identitätsbildung und Selbstheilung eingesetzt. Wissenschaftlich werden in der Auseinandersetzung mit der “Süchtigkeit des Künstlers” neben den Modellen der Depressions – abwehr und der narzisstischen Störung auch jene der Kreativitätsförderung diskutiert.
In der Behandlung von Suchtkranken haben sich künstlerische Therapieverfahren, welche seit Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA und Europa entwickelt wurden, als unverzichtbare, wirksame Maßnahmen etabliert. Mit malerisch-zeichnerischen, plastisch- skulpturalen, aber auch literarisch-dramatischen Methoden sollen die Patienten unter therapeutischer Begleitung Unbewusstes zur Sprache bringen, innere Bilder ausdrücken, ihre Phantasie ausleben und kreative Fähigkeiten entwickeln. Schon so große Kulturschaffende wie Francisco de Goya, Edvard Munch, Alfred Kubin oder Frieda Kahlo haben sich mit dem Bezug innerer Bilder zur Wirklichkeit auseinandergesetzt. Die besonders von Hans Prinzhorn, Walter Morgenthaler und Leo Navratil gesetzten Impulse zur Integration bildnerischen Gestaltens in die therapeutische Arbeit wurden später, insbesondere von Hilarion Petzold, auch auf die Suchttherapie übertragen.
All diesen Verfahren liegt der Gedanke zugrunde, dass der Patient über bildnerische Medien einen Weg findet, sich auszudrücken, Handlungsspielräume zu entdecken und Lösungsmöglichkeiten und Ressourcen zu entwickeln. Dabei konnte auf Überlegungen der großen Analytiker Freud und Jung zurückgegriffen werden, welche bereits Beziehungen zwischen dem Bildhaften und dem Unbewussten herzustellen versuchten. Nach tiefenpsychologischer Sichtweise spielen innere Bilder, die in den künstlerischen Gestaltungen ihren Ausdruck finden, die entscheidende Rolle. Elisabeth Wellendorf hat dazu gesagt: “In der Therapie geht es um das Gewahrwerden innerer Prozesse, um mehr Bewusstheit. Das bedeutet ein intensiveres Hineinlauschen oder Hineinschauen in die intrapsychische Welt mit all den Gefühlen, die sie auslöst und dann wieder ein Zurücktreten, das es möglich macht, die Muster und Regeln zu erkennen, jedes innere und äußere Handeln zu beeinflussen und sie ihrer Zwänge zu entheben.” Die in der Suchtbehandlung fest verankerte Therapie mit Musik, welche schon in der Antike verbreitet war und in der Zeit der Renaissance und des Barocks eine erste Blüte erlebt hat, ist in aktiver und rezeptiver Anwendung zu einer eigenen Heildisziplin geworden. In der therapeutischen Arbeit mit einer der wichtigsten kulturellen Disziplinen sollen Selbstwahrnehmung und Introspektion gefördert, blockierte Emotionen angestoßen, Ressourcen aktiviert und neue Möglichkeiten des Ausdrucks gefunden werden.
In unserer globalisierten Gesellschaft könnte sich nicht nur eine neue Kultur von Rausch und Sucht entwickeln, sondern es sollte auch im Bereich der Prävention und Therapie viel mehr Bedacht auf die sehr vielfältig gewordenen kulturellen Einflüsse auf die Suchtgenese genommen werden. Die Suchtprävention wird sich mehr um Migranten kümmern müssen, da diese Gruppen, vor allem in der zweiten und dritten Generation, in den letzten Jahren mehr und mehr vom Drogen- und Alkoholproblem und besonders auch von der Spielsucht betroffen sind. Kultursensible Suchtprävention hat allerdings eine Reihe von Besonderheiten zu beachten und muss in modifizierter Form gestaltet sein. So ist auf Kommunikationsschwierigkeiten sprachlicher und kultureller Art, auf das fehlende Problembewusstsein bezüglich der Drogenproblematik bei der Elterngeneration und auf die unzureichenden Kenntnisse über vorhandene Hilfsangebote der Suchthilfe zu achten. Oft begegnet man einem starken Misstrauen gegenüber hiesigen Institutionen und Behörden, hat mit Ängsten vor aufenthaltsrechtlichen Folgen und anschließender Flucht in die Anonymität zu rechnen. Suchtberater und -therapeuten sind mit Tabus in Bezug auf die Drogenproblematik und dem Bestreben, die eigenen kulturellen Werte zu bewahren, konfrontiert. Die Suchtprävention soll sich muttersprachlicher, bilingualer und kulturspezifischer Ansätze bedienen. Die Ziele mehrsprachiger und kulturspezifischer Aufklärungskampagnen müssten in Sensibilisierung, Aufklärung, Enttabuisierung des Suchtthemas, in Informationen über das Hilfesystems, im Abbau von Schwellen – ängsten und in der Stärkung der Eigenverantwortlichkeit liegen.
resümeeRausch und Sucht stehen seit jeher in enger Verbindung zur jeweiligen Kultur. In der Wissenschaft besteht weitgehend Einigkeit, dass kulturelle Faktoren einen bedeutsamen Einfluss in der Suchtentstehung haben, aber auch, dass eine “Kultur des Genusses” psychoaktiver Substanzen gleichzeitig große präventive Chancen hätte.
Wenn als maßgebliche Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit psychotropen Substanzen die drei großen “M” – Mündigkeit, Medizinalisierung und Mäßigkeit – genannt werden, müsste dem unbedingt auch die Kultivierung hinzugefügt werden. Gerade in einer Gesellschaft, die nach der Schweizer Soziologin Maria Caiata nicht mehr trotz, sondern wegen der Drogen funktioniert (1996), ist eine Kultivierung des Rauschmittelgebrauchs unabdingbar. Dies trifft aber nicht nur für die substanzgebundenen Abhängigkeiten, sondern genauso für die zunehmenden Verhaltenssüchte zu.
In der Kultur liegen große Chancen der Prävention und Therapie. In Anlehnung an ein Wort des chinesischen Philosophen Hsün Dse (220 v. Chr.) könnte man sagen: “Der Mensch ist von Natur aus süchtig. Wenn er dennoch mit dem unerschöpflichen Angebot psychoaktiver Subs – tanzen umgehen kann, so ist dies eine Frucht der Kultur”.
Literatur:
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– Bales RF, Cultural differences in rates of alcoholism. Quart J Stud Alcohol 1946; 6, 480
– Caiata M, Integrierte Drogenabhängigkeit. Eine Pilotstudie über sozial integrierte GebraucherInnen von Heroin. In: Abhängigkeiten 1996, 2. Jg, 25-30
– Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.): Sucht in unserer multikulturellen Gesellschaft, Lambertus, Freiburg i. Br., 1998
– Haasen C, Heimann H, Penka S, Heinz A, Abhängigkeit und Sucht. In: Machleidt W, Heinz A: Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie, Verlag Urban & Fischer; 375 -385, 2011
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