Die Einteilung von psychiatrischen Störungen bei Epilepsiepatienten erfolgt gemäß ihrer zeitlichen Beziehung zu den epileptischen Anfällen und deren Behandlung (Abb.). So können psychiatrische Störungen entweder in einer fixen zeitlichen Beziehung zu den Anfällen auftreten (man unterscheidet dabei präiktale, iktale und postiktale psychiatrische Störungen) oder sich unabhängig vom Auftreten der Anfälle manifestieren (interiktale psychiatrische Störung). In seltenen Fällen kommt es ausschließlich in Phasen der Anfallsfreiheit zu psychiatrischen Störungen, während diese bei Wiederauftreten der Anfälle remittieren (alternative psychiatrische Störung). Schließlich können psychiatrische Störungen auch durch Antiepileptika verursacht oder verschlechtert werden1.
Epidemiologie
Die Depression stellt die häufigste psychiatrische Begleiterkrankung bei Epilepsie dar. Die Häufigkeit von Depressionen korreliert dabei mit der Anfallskontrolle: Sie liegt zwischen 3 und 9% bei gut kontrollierter Epilepsie, jedoch zwischen 20 und 55% bei Patienten mit therapieresistenten Epilepsien. Bei Epilepsiepatienten besteht eine im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 10-fach erhöhte Suizidrate.
Umgekehrt belegen mehrere Studien, dass eine positive Anamnese für eine Depression einen signifikanten Risikofaktor für das Neuauftreten einer Epilepsie darstellt. Eine positive Anamnese für eine Major Depression erhöht das Risiko für das Auftreten von unprovozierten Anfällen um einen Faktor 1,7. Patienten nach einem Suizidversuch haben ein 5,1-fach erhöhtes Risiko unprovozierte Anfälle zu erleiden3, 4.
Die bidirektionale Beziehung zwischen Epilepsie und Depression könnte durch gemeinsame Pathomechanismen beider Erkrankungen erklärt werden. Hier sind einerseits eine veränderte serotoninerge, noradrenerge, dopaminerge und GABAerge Neurotransmission sowie andererseits strukturelle und funktionelle Veränderungen im mesialen Temporallappen, im orbitofrontalen Kortex und im Bereich subkortikaler Strukturen bei beiden Erkrankungen anzuführen3.
Für die Bedeutung einer veränderten serotoninergen, noradrenergen, dopaminergen und GABAergen Neurotransmission bei Epilepsie und Depression sprechen dabei die folgenden Befunde:
Sowohl bei Epilepsien als auch bei Depressionen finden sich strukturelle und funktionelle Veränderungen im mesialen Temporallappen, im orbitofrontalen Kortex und im Bereich subkortikaler Strukturen:
Das Vorliegen und der Schwergrad einer Depression sind die wichtigsten Prädiktoren für die Lebensqualität von Epilepsiepatienten und für die Lebensqualität entscheidender als die Anfallsfrequenz4. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer frühzeitigen Diagnose und Behandlung.
Dennoch werden Depressionen bei Epilepsiepatienten unterdiagnostiziert und unterbehandelt: So waren in einer Studie 60% der Epilepsiepatienten mit Depressionen für mehr als ein Jahr symptomatisch bevor eine Behandlung indiziert wurde. Hierfür können folgende Gründe angeführt werden3, 4:
Im Jänner 2008 publizierte die U.S. Food and Drug Administration (FDA) eine Warnung, in der auf ein 1,8-fach erhöhtes Risiko für Suizidalität bei der Einnahme von Antiepileptika hingewiesen wurde. Allerdings wies diese Metaanalyse gravierende methodische Mängel auf und konnte in vier nachfolgenden prospektiven Studien nicht nachvollzogen werden, sodass eine antiepileptische Therapie auch bei depressiven Patienten keineswegs hintangehalten werden darf, da dadurch wesentlich größere Risken für den Patienten (u. a. Verletzungsgefahr, SUDEP etc.) entstehen als durch ein fraglich minimal erhöhtes Suizidrisiko.
Epidemiologie
Die Prävalenz psychotischer Störungen bei Epilepsiepatienten liegt zwischen 2 und 8%. Die Einteilung der epileptischen Psychosen erfolgt gemäß ihrem zeitlichen Bezug zum epileptischen Anfall (Tab. 1). Dabei können sogenannte episodische Psychosen (iktale, postiktale und Alternativpsychosen), die in einem fixen zeitlichen Bezug zum Anfallsgeschehen stehen und chronische Psychosen (interiktale Psychosen) ohne zeitlichen Bezug zu den Anfällen unterschieden werden4.
Iktale Psychosen
Iktale Psychosen stellen die klinische Manifestation eines nichtkonvulsiven Status epilepticus (einfach fokaler Status, komplex fokaler Status oder Absencenstatus) dar. Die Symptomatik besteht in Wahnvorstellungen, illusionären Verkennungen, Halluzinationen, zudem können auch affektive Symptome wie panische Angst und depressive Verstimmungen sowie fluktuierende Bewusstseinsstörungen, Automatismen und Lidmyoklonien auftreten. Das EEG liefert den entscheidenden diagnostischen Beitrag.
Postiktale Psychosen
Postiktale Psychosen, die 25% der epileptischen Psychosen repräsentieren, sind durch psychotische und affektive Symptome (paranoide Wahninhalte) charakterisiert, die nach einer, dem Anfallsereignis folgenden, längstens sieben Tage andauernden symptomfreien Periode auftreten (luzides Intervall). Die Symptomatik stellt dabei nicht nur eine Aggravierung des vor dem Anfallsereignis bestehenden psychiatrischen Status oder der Persönlichkeit dar und ist nicht durch andere medizinisch-psychiatrische Ursache erklärbar (z. B. Drogenintoxikation, metabolische Entgleisung etc.). Das Bewusstsein ist nicht wesentlich beeinträchtigt (wie etwa beim Delir), die Symptome sind zeitlich limitiert und dauern üblicherweise Tage, selten Wochen an8.
Unter Alternativpsychose (Synonym: forcierte Normalisierung, paradoxe Normalisierung) versteht man eine inverse Beziehung zwischen Anfallskontrolle bzw. Normalisierung des EEG einerseits und psychotischen Symptomen andererseits. Landolt9 beschrieb erstmals das Auftreten von psychotischen Episoden bei Normalisierung des EEG und prägte hierfür den Begriff der “forcierten Normalisierung”. Tellenbach10 erweiterte das Konzept auf die Manifestation von Psychosen bei Anfallsfreiheit – womit die Notwendigkeit einer EEG-Untersuchung umgangen wurde – und führte hierfür den Begriff der “Alternativpsychose” ein. Wolf und Trimble11 schlugen den Begriff “paradoxe Normalisierung” vor. Heute wird eine Alternativpsychose definiert durch eine Verhaltensstörung mit akutem/subakutem Beginn begleitet von einer Denk- und Wahrnehmungsstörung, einer signifikante Änderung der Affektivität (Depression oder Manie) sowie einer Angststörung mit Ich-Störung oder dissoziativen Symptomen, die im Zusammenhang mit einer 50%igen Abnahme der Zahl der interiktalen Spikes im EEG im Vergleich zum Vorbefund oder mit einer kompletten Anfallsfreiheit von mindestens einer Woche (berichtet durch einen Außenstehenden) auftritt12. Alternativpsychosen sind selten, sie machen 1% der epileptischen Psychosen aus. Die Pathomechanismen sind unklar, wobei u. a. ein exzessiver Dopamineffekt verantwortlich gemacht wurde. Andere Autoren postulieren eine Rolle des Kindling- Phänomens in der Pathogenese von Alternativpsychosen.
Bei den interiktalen Psychosen, die für 20% der epileptischen Psychosen verantwortlich sind, manifestieren sich die psychotischen Symptome zeitlich unabhängig vom Anfallsgeschehen. Nur 50-70% der Patienten erfüllen die diagnostischen Kriterien einer Schizophrenie, insbesondere besteht keine Negativsymptomatik (Apathie, Affektverflachung, Anhedonie, …), die Persönlichkeit und die interpersonellen Beziehungen bleiben erhalten. Illusionäre Verkennungen, religiöse Anmutungserlebnisse und paranoid- halluzinatorische Symptome stehen im Vordergrund. Insgesamt ist die Symptomatik milder und der Verlauf günstiger als bei einer Schizophrenie. Dies konnte auch in einer rezenten prospektiven Studie bestätigt werden, in der Epilepsiepatienten mit interiktalen Psychosen und Schizophreniepatienten hinsichtlich Psychopathologie und Krankheitsverlauf systematisch verglichen wurden. Die Epilepsiepatienten wiesen in der negativen Subskala der Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS) signifikant niedrigere Werte auf als die Schizophreniepatienten. Die Ansprech- und Remissionsraten nach einer Beobachtungszeit von einem Jahr waren bei den Epilepsiepatienten höher als bei den Schizophreniepatienten, ebenso waren die erforderlichen Neuroleptika-Dosen signifikant niedriger.
Die Prävalenz von Angststörungen bei Epilepsiepatienten liegt zwischen 15 und 25%1. Angststörungen bei Epilepsiepatienten können wie folgt klassifiziert werden (Tab. 2): Präiktale Angst (Prodromalphase mit Angst Stunden bis Tage vor einem Anfall), iktale Angst (verursacht durch epileptische Aktivität im Corpus amygdaloideum, im anterioren Gyrus cinguli, im orbitofrontalen und präfrontalen Kortex), postiktale Angst (Angst nach einem Anfall für die Dauer von Stunden bis Tagen) und interiktale Angst (Angst im Rahmen einer Komorbidität von Angsterkrankung und Epilepsie; Angst als iatrogen verursachte Komorbidität (Nebenwirkung der antiepileptischen oder epilepsiechirurgischen Therapie); Angst als psychologische/ psychodynamische Reaktion auf die Tatsache, an Epilepsie erkrankt zu sein)13. Risikofaktoren für Angststörungen bei Epilepsien sind neurobiologische Faktoren (Temporallappenepilepsie, epileptogene Zone im Bereich des rechten Temporallappens, hohe Anfallsfrequenz sowie schwere Anfälle), pharmakologische Faktoren (Beeinträchtigungen im Stoffwechsel von Norepinephrin, Dopamin, Serotonin, GABA, ACTH und Neuropeptid Y) sowie psychosoziale Faktoren (Angst als psychologische Reaktionen auf die Anfälle und deren Unvorhersehbarkeit, Einschränkungen im Alltagsleben, vermindertes Selbstwertgefühl, Stigma, soziale Ausgrenzung).
1) Schmitz B, Depression and mania in patients with epilepsy. Epilepsia 2005; 46 Suppl 4:45-49
2) Tellez-Zenteno JF, Patten SB, Jette N, Williams J, Wiebe S, Psychiatric comorbidity in epilepsy: a population-based analysis. Epilepsia 2007; 48:2336-2344
3) Kanner AM, Depression in epilepsy: a neurobiologic perspective. Epilepsy Curr 2005; 5:21-27
4) Lehner-Baumgartner E, Neuropsychologische und psychiatrische Komorbiditäten bei Epilepsien. J Neurol Neurochir Psychiatr 2009; 10:30-38
5) Blumer D, Altshuler LL, Affective disorders. In: Engel J Jr, Pedley TA, eds. Epilepsy: A Comprehensive Textbook. Philadelphia: Lippincott-Raven, 1997: 2083-2099
6) Kanner AM, Balabanov A, Depression and epilepsy: how closely related are they? Neurology 2002; 58:S27-39
7) Gilliam FG, Barry JJ, Hermann BP, Meador KJ, Vahle V, Kanner AM, Rapid detection of major depression in epilepsy: a multicentre study. Lancet Neurol 2006; 5:399-405
8) Logsdail SJ, Toone BK, Post-ictal psychoses: A clinical and phenomenological description. Brit J Psychiatry 1988; 152:246-252
9) Landoldt H, Some clinical electroencephalographical correlations in epileptic psychosis (twilight states). Electroenceph Clin Neurophysiol 1953; 5:121
10) Tellenbach H, Epilepsie als Anfallsleiden und als Psychose. Über alternative Psychosen paranoider Prägung bei ,forcierter Normalisierung (Landolt) des Elektroencephalogramms Epileptischer. Nervenarzt 1965; 36:190-202
11) Wolf P, Trimble MR, Biological antagonism and epileptic psychosis. Br J Psychiatry 1985; 146:272-276
12) Krishnamoorthy ES, Trimble MR, Sander JW, Kanner AM, Forced normalization at the interface between epilepsy and psychiatry. Epilepsy Behav 2002; 3:303-308
13) Beyenburg S, Mitchell AJ, Schmidt D, Elger CE, Reuber M, Anxiety in patients with epilepsy: Systematic review and suggestions for clinical management. Epilepsy Behav 2005; 7:161-171