Substitutionsforum 2012: Drogengebrauch, Lust und Verlangen aus interdisziplinärer Sicht

Das Substitutionsforum wird seit 2008 als Jahreskongress von der Österreichischen Gesellschaft für arzneimittelgestützte Behandlung von Suchtkrankheit (ÖGABS) veranstaltet. „Die ÖGABS ist eine interdisziplinäre Fachgesellschaft und wir sehen uns diesem Ansatz auch bei der Themenwahl für das Substitutionsforum verpflichtet“, so Dr. Hans Haltmayer, 1. Vorsitzender ÖGABS. Neben juristischen Aspekten liege ein Schwerpunkt stets auf dem bei der Behandlung Suchtkranker vernachlässigten Bereich der somatischen komorbiden Erkrankungen. Als thematisch kontroversiellen Schwerpunkt beim diesjährigen Treffen nennt Haltmayer die Aspekte „Belohnung, Lust und Lustregulation“ im Kontext von Drogengebrauch und Substitutionsbehandlung, aus dem ein Beitrag vorgestellt werden soll.

Böse Begierde?

Univ.-Prof. Dr. Alfred Springer, 2. Vorsitzender der ÖGABS, Em. Leiter des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Suchtforschung, Wien, widmete sich in seinem Vortrag dem interdisziplinären Zugang zum Zusammenhang von Drogengebrauch, Lust und Verlangen sowie der Frage, ob die „Begierde nach der Droge“ verwerflich, also „böse“ sei.
Als Einstieg zitierte Springer Sigmund Freud, der den Standpunkt vertreten hatte, dass es Zweck und Absicht des Lebens des Menschen sei, nach Glück zu streben – worunter zumeist primär und im engeren Sinn das Erleben starker Lustgefühle verstanden werde. Als zweite Spielart der Glückserfahrung imponierte Freud die Abwesenheit von Schmerz und Unlust. Allerdings kam er zur Einsicht, dass dieses Glücklichsein im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen sei, weshalb der Mensch bestimmte Mittel brauche, um den Belastungen des Lebens entgegenzutreten. Zu diesen zählen auch Rauschstoffe, die ihn für das Leid unempfindlich machen sollen.
Im Sinne der Interdisziplinarität beleuchtete Springer das Thema Drogengebrauch ausgehend von unterschiedlichen Bereichen.

Kulturgeschichte

Aufgrund der Tatsache, dass Drogengebrauch mit Lusterfahrung und Glück assoziiert ist, wird die Nutzung von Drogen im Lauf der Geschichte je nach kulturell vorherrschenden Meinungen positiv oder negativ und zumeist widersprüchlich beurteilt, so Springer. So war im 19. Jahrhundert Koka in verschiedenen Zubereitungen (z. B. Vin Mariani) weit verbreitet; Texte aus dieser Zeit beschrieben die Wirkung unter anderem als „für alle Generationen und beide Geschlechter geeignet“ und wiesen der euphorisierenden Fähigkeit der Substanz große Bedeutung zu. Freud z. B. entdeckte in seinen experimentellen Untersuchungen zur Kokawirkung, dass die von anderen Wissenschaftlern beschriebene Steigerung der Ausdauer und Muskelkraft durch Kokain nicht als direkte Wirkung der Droge verstanden werden kann, sondern auf einer Empfindung beruht, die von der kokainbewirkten Euphorisierung vermittelt wird.

Verhaltensforschung

Experimente zum Auffinden physiologischer Zentren des Glücks im Gehirn gehen auf die Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. Auch der Einfluss von systemisch oder intrazerebral verabreichten Drogen auf bestimmte Hirnareale hinsichtlich Sucht und Suchtentwicklung wurde in diesem wissenschaftlichen Kontext in Tiermodellen untersucht. Ergebnisse von experimentellen Untersuchungen (u. a. in der Skinner-Box) haben und hatten laut Springer großen Einfluss auf die Theorie und Diagnostik süchtigen Verhaltens beim Menschen. Die Übertragung der Ergebnisse dieser Experimente auf den Menschen bildet die Basis der aktuellen neurowissenschaftlichen Auffassung, dass es sich bei Sucht um eine Erkrankung des Gehirns handelt.
Aus neurowissenschaftlicher Sicht stellt jedoch die Aktivierung von Belohnungssystemen eine Komponente des normalen Verhaltens dar, weil dies für die Erhaltung der Art und für das Überleben und Wohlbefinden von Individuen notwendig ist. Dabei bedeutet auch die direkte chemische Aktivierung der Belohnungssysteme keine Abweichung von der normalen Steuerung der Belohnung, weil z. B. auch Zucker lustvoll erlebt werden kann. Daraus ergibt sich laut Springer die Frage, wann gemäß diesem Verständnis von Sucht gesprochen werden kann. Entscheidend dafür erscheint ihm das Phänomen der motivationalen Toxizität als Folge von Drogengebrauch, bei der es zu einer Verschlechterung der Fähigkeit kommt, übliche Belohnungen als Verhaltenskontrolle einzusetzen. Dabei werden unter Umständen auch lebenserhaltende natürliche Belohnungen nicht mehr angenommen – was bei Süchtigen zu beobachten ist, wenn sie Karriere, Sexualität etc. zugunsten der Droge vernachlässigen. Die Erkenntnis, dass Drogenlust kompetitiven Einfluss auf andere Möglichkeiten der Lusterfahrungen und des Begehrens hat, bildet heute das Leitkriterium für die klinische Diagnose der Drogenabhängigkeit. Springer betonte jedoch, dass dieses Phänomen zwar durch den chronischen Gebrauch von Drogen ausgelöst werden kann, aber keineswegs bei allen Abhängigen in Erscheinung tritt. Es sollte auch nicht als generelle Eigenschaft der chemischen Aktivierung der Belohnungssysteme im Gehirn angesehen werden. Insgesamt seien Lust und Belohnung als Steuermechanismen des menschlichen Verhaltens anzusehen.
Bestimmte Untersuchungen, die bereits in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts ihren Ausgang nahmen, zeigen, dass die Ergebnisse der Skinner-Box-Experimente nur sehr bedingt auf den Menschen übertragbar sind, weil diese bei sozialer Isolation der Tiere durchgeführt wurden. In anderen Untersuchungsdesigns konsumierten die Tiere bei artgerechter Haltung mit sozialer Umgebung auch bei entsprechendem Angebot deutlich weniger Drogen als im isolierten Käfig. Hinsichtlich Übertragbarkeit des „Käfig-Prinzips“ auf den Menschen führt Springer aus, dass „Käfige“ sehr unterschiedlich gestaltet sein können: Gefängnisse, innere Zwänge und auch als große Erwartungshaltung an Künstler. Letztlich stelle auch die Art und Weise, wie Methadon oder andere Ersatzdrogen angeboten werden, im weitesten Sinne einen „Käfig“ dar.

Soziologie

Der Soziologe und Musiker Howard S. Becker kam Mitte der 1950er-Jahre zu dem Schluss, dass unter bestimmten Voraussetzungen „genussvoller Drogenkonsum“ möglich ist. Mit dieser Auffassung setzte er sich bereits damals von anderen Interpretationen ab, die den Drogengebrauch regelmäßig als Kompensation verstehen. Aus Untersuchungen und Überlegungen, die das „Set und Setting“-Konzept anwenden, geht jedoch regelmäßig hervor, dass die durch Drogen vermittelte Lust bzw. Euphorie sehr vielgestaltig ist und einerseits von der Droge und andererseits durch den Gebraucher und seine Situation bestimmt wird.
Ein wichtiger, oftmals unterschätzter Aspekt ist, dass in der Populärkultur der Drogenerfahrung seit jeher ein erotischer Aspekt zugeordnet wird, wobei unterschiedliche, oftmals widersprüchliche Auswirkungen auf sexuelle Begierde, Sexualtrieb und sexuelles Verhalten beschrieben wurden und werden. Diesem erotischen Aspekt der Sucht, der weitgehend als autoerotisches Phänomen erscheint, schreibt Springer z. T. die ablehnende Haltung gegenüber Drogengebrauch in der Gemeinschaft zu.

Klinische Pharmakologie/Pharmakotherapie

Prinzipiell kann bei bestimmten Substanzgruppen ein und dieselbe Substanz einerseits als Arzneimittel, andererseits als Droge (Substanz, die vornehmlich mit dem Ziel des Genusses oder der Lust­erfahrung gebraucht wird) betrachtet werden. In der Mainstream-Kultur wird die Verwendung im außermedizinischen Bereich zumeist verworfen. Schon frühzeitig setzte sich daher die Pharmakologie das Ziel, den medizinischen Nutzen bestimmter Substanzen von der Eigenschaft der lustspendenden Euphorie zu befreien: Neu entwickelte Analgetika und Lokalanästhetika sollten Opium, Morphin und Kokain insbesondere zwecks Vermeidung eines Rauschzustandes ersetzen.
Der gesundheitspolitische Auftrag der Substitution verfolgt auch heute diese Tendenz, indem Mittel eingesetzt werden, die die Euphorisierung minimieren und eine Applikationsart vorgegeben wird, die die Befriedigung des Lustbedürfnisses des Abhängigen verweigert. Springer merkte kritisch an, dass gerade die als liberal geltende heroingestützte Behandlung diese Zielvorstellung in besonderer Weise verfolge, indem sie das Bild und die Bewertung des Drogengebrauchers und der Droge entscheidend verändert („from heroin-chic to heroin-sick“). Er meinte, dass die Substitutionsbehandlung für Menschen, bei denen die Tendenz zur Unlustvermeidung im Zentrum steht, als geeignete Maßnahme für „ein Stück Annäherung an das Glück“ gelten kann, und führte die Probleme, denen sich das Substitutionskonzept in vielen Fällen ausgesetzt sieht, darauf zurück, dass sowohl jenen Abhängigen, die Lustmaximierung anstreben und nicht auf den komplexen konditionierten Kontext der Lusterfahrung verzichten können, als auch jenen, die sich der kulturellen Interpretation ihres Bedürfnisses nicht beugen und ihr Drogenbegehren nicht als „krank“ erkennen wollen, die Substitution nur ein begrenzt wirksames Angebot zur Verfügung stellt. Die interdisziplinäre Sichtweise kann dabei helfen, diese Prozesse zu erkennen und zu verstehen und mittels einer Anpassung des Prinzips der Diversifikation an die verschiedenen Bedürfnislagen der Substitutionspatienten innovative Behandlungsansätze zu entwickeln.

 

Das 16. Substitutionsforum
wird vom 13.–14. April 2013 im
Schloss Mondsee stattfinden.
www.oegabs.at