ÖGN 2012: Prodromi von Polyneuropathien

Bei zahlreichen Polyneuropathien (PNP) wird der Begriff der „subklinischen“ Neuropathie verwendet, der zum Ausdruck bringt, dass der/die PatientIn zwar die Zeichen der PNP hat, aber noch subjektiv keine Symptome oder Einschränkungen aufweist. Die Hauptinstrumente zum Nachweis einer PNP sind die Anamnese, die klinische Untersuchung und die Elektrophysiologie, während andere Labortest als Ergänzung dienen. Mehrere Publikationen haben in den letzten Jahren festgestellt, dass die Prävalenz von PNP bei M. Parkinson (PD) höher ist als bei altersgleichen PatientInnen. Da PatientInnen mit PD oft an Gangstörungen leiden, ist möglicherweise eine zusätzliche PNP eine weitere Einschränkung und sollte in das Therapiekonzept einbezogen werden. Das trifft möglicherweise auch für Lipidsenker zu, bei denen auch eine vermehrte Häufung von PNP vermutet wird. Als besonders wichtig ist der Umgang mit PatientInnen einzustufen, die neurotoxische Chemotherapien erhalten. Diese PatientInnen sind – was das periphere Nervensystem betrifft – zu Beginn der Chemotherapie beschwerdefrei und entwickeln relativ berechenbar substanz- und zyklusabhängig eine chemotherapieinduzierte PNP, die zu schweren Einschränkungen führen kann.

Instrumente zur Erfassung von PNP: Die klinische Anamnese und neurologische Untersuchung, die durch NLG und EMG ergänzt werden, sind die wichtigsten Instrumente. Besonders bei sensiblen Neuropathien lassen sich aber die elektrodiagnostischen Befunde nicht immer mit den aktuellen Symptomen in Zusammenhang bringen, und möglicherweise müssen die bisher verwendeten Instrumente ergänzt werden, wofür sich unterschiedliche Skalen eignen. Diesbezüglich wurden zahlreiche Bewertungsskalen wie z. B. der Total Neuropathy Score, die Norfolk-Skala, der UTAH Early Neuropathy Score und zahlreiche andere entwickelt, die zunehmend auch mit speziellen sensiblen Skalen, VAS- und Quality-of-Life-Skalen, ergänzt werden. Viele Erfahrungen zu den Symptomen und dem Verlauf von PNP stammen von großen Studien bei diabetischer PNP. Dabei zeigte sich, dass von zahlreichen Parametern vorwiegend sensible Symptome vor Schmerz und motorischen Phänomenen dominieren. Ebenso zeigte sich, dass auch asymptomatische PatientInnen mit PNP bereits Einschränkungen ihrer Funktionen haben.

Verlauf, Symptome und Zeichen von Prodromen der PNP

Verlauf: PNP können verschiedene Verlaufsformen und damit unterschiedliche Prodrome aufweisen: An einem Ende sind dies langsam beginnende, durch Untersuchung feststellbare, aber subjektiv kaum oder nicht bemerkbare PNP (subklinisch), am anderen Ende können kurzfristig auftretende geringe Sensibilitätsstörungen der Beginn eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS) und von ausgeprägten motorischen Ausfällen gefolgt sein.

Hirnnervensymptome: Hirnnervensymptome können gelegentlich auf ein PNP-Syndrom hinweisen: Geruchs- und Geschmacksstörungen bei Vitamin-B12-Mangel, Optikusatrophien bei der Alkohol-PNP; rheumatische sensible PNP können mit sensiblen perioralen Trigeminussensibilitätsstörungen beginnen („mental neuropathy“) und auch ein- oder beidseitige periphere VII-Paresen sind in Zusammenhang mit einigen PNP beschrieben. Besonders wichtig sind Geschmacksstörungen, Xerostomie und auch verschiedene Formen des „Burning Mouth“ beim Diabetes mellitus.

 

 

Sensible Symptome: Konventionellerweise werden sensible PNP-Syndrome in „Plus“ (z. B. Kribbeln, Missempfindungen) und „Minus“ (Taubheit, eingeschlafenes Gefühl oder Gefühlsverlust) eingeteilt. Selten beginnen die Symptome mit der typischen sockenförmigen Verteilung, sondern oft ist der Beginn distal und betrifft die Zehen, den Fußballen und den Fußrücken (weniger die Sohle und die Ferse). Erst im weiteren Verlauf kommt es zur socken- später strumpfförmigen Verteilung. Gefühlsstörungen an den Füßen müssen jedoch vorsichtig beurteilt werden, da der Fuß sowohl radikulär als auch im Detail am Fuß durch kurze Endäste und Binnennervenäste betroffen sein kann. Eine wichtige Hilfe ist die Symmetrie der Symptome. Multiplexneuropathien können als Einzelnervenläsionen imponieren. Fleckförmige Sensibilitätsstörungen sind eine Rarität (disseminierte sensible Mononeuritis „Wartenberg“). Bei der ersten Beurteilung sind auch trophische Störungen hilfreich, wozu die typische „trockene“ Haut bei PatientInnen mit diabetischer PNP zählt.
Sensible Störungen an den Händen und Fingern schränken die Feinmotorik ein und verursachen Ungeschicklichkeit, sensible Störungen an den Füßen und Beinen können zur Unsicherheit und Ataxie führen. Ulzera und Gelenksdeformationen sind bereits Zeichen einer fortgeschrittenen Neuropathie. Eine Kombination von sensibler Störung und motorischen Phänomenen stellen die „painful legs and moving toes“ dar. Dabei kommt es bei manchen Formen der PNP zu „selbstbewegenden“ Zehen, was auch mit Schmerzen verbunden ist. Besonders bei PatientInnen mit Cis-Platin-induzierten PNP kann dies ein Hinweis für PNP sein. Im Hals-Nasen- Bereich wurde „painful mouth and moving tongue” als Analogie beschrieben.
Der Kleinfasertyp von PNP tritt vorwiegend durch distale Schmerzsymptome in Erscheinung. Die neurologische Untersuchung kann normal auslösbare Reflexe zeigen und auch die konventionelle Elektrodiagnostik ist unauffällig. Der Nachweis kann mit einer Hautbiopsie erbracht werden. Hauptursachen sind neben Diabetes mellitus und idiopathischen Formen auch genetische Syndrome sowie toxische und parainfektiöse Ursachen (Tab., Abb. 1 und 2).

 

 

 

Schmerzen: Periphere PNP können schmerzhaft in Erscheinung treten. Distale, fast immer symmetrische und oft berührungsempfindliche Schmerzsyndrome und Allodynien können auftreten und sind besonders bei der diabetischen PNP vermehrt anzutreffen. Die Untersuchung sollte sorgfältig die begleitenden Zeichen der Neuropathie erfassen und auch andere fokale Schmerzsyndrome (Durchblutungsstörungen, Einzelnervenläsionen, Morton-Neuralgie etc.) ausschließen (Abb. 3).

 

 

Motorische Phänomene: Hinweisend auf eine motorische Beteiligung sind vorwiegend Schwächen der Fußheber, die als „Stolpern“ oder „Hängenbleiben“ beschrieben werden. Manchmal treten diese Beschwerden erst auf unebenem Gelände (z. B. Waldboden) oder bei längerer Beanspruchung und Ermüdung in Erscheinung. Als objektive Zeichen findet man Atrophien und leichte Paresen. Bei den immunmediierten Neuropathien wie dem GBS oder der chronisch inflammatorischen demyelinisierenden Polyradikuloneuropathie (CIDP) kann die Schwäche bereits zum Manifestationszeitpunkt im Vordergrund stehen oder das Erstsymptom sein. Auf zwei wichtige motorische Manifestationen soll noch hingewiesen werden: 1. Multiplexneuropathien, die als schmerzhafte Mononeuropathien auftreten und Erstsymptom einer lebensbedrohenden Vaskulitis sein können und 2. Einzelnervenläsionen bei Diabetes mellitus, wie die diabetische Amyotrophie oder Rumpfnervenneuropathien. Eng mit der Motorik verbunden sind Muskelkrämpfe, die nicht nur die Waden, sondern auch distal kleine Muskel wie die Fuß- und Handmuskel betreffen können, aber in der Pathogenese heterogen sind.

Zusammengesetzte („Composite“) Funktionen sind für die Funktion wichtiger als Störungen der Einzelfunktionen. Gefühlsstörungen und Schwäche führen zu hochgradigen Funktionseinschränkungen und Ungeschicklichkeit, die schwerer wiegen als das Einzelsymptom. Insbesondere das sensible Feedback ermöglicht ökonomische und brauchbare Bewegungen. Als Beispiel sind Funktionseinschränkungen beim Karpaltunnelsyndrom zu nennen, bei dem vorwiegend die sensible Störung die Funktionsstörung („Ungeschicklichkeit“) bewirkt.

Autonome Neuropathien können Erstsymptome von PNP sein und durch Orthostasen und posturale Hypotension sowie als Störungen des Gastrointestinaltraktes, der Sexualfunktion oder der Schweißsekretion in Erscheinung treten. Besonders bei der diabetischen PNP haben autonome Störungen eine große Bedeutung. Bei der in Portugal vorkommenden familiären Amyloid-PNP sind Orthostasen und bei Männern die Impotenz das Erstsymptom der PNP, erst später kommt es zu den Ausfällen der sensomotorischen PNP.

Gangstörungen: Gangstörungen sind ein häufiges neurologisches Syndrom und erfordern eine weitreichende Differenzialdiagnose. Polyneuropathien können unter verschiedenen Umständen zu Gangstörungen führen: Ein- oder beidseitiger Fallfuß, proximale Schwäche (GBS), schmerzhafte PNP, sensible Ataxie mit Koordinationsstörungen und gleichzeitige Kombinationen von PNP mit Hinterstrangdegeneration (B-12-Mangel; Abb. 4).

 

 

Differenzialdiagnose – kann es etwas anderes sein?

PNP-ähnliche Symptome wie Gefühlsstörungen, motorische Ausfälle, Schmerzen und Koordinationsstörungen können auch bei einigen anderen ätiologisch unterschiedlichen Krankheitsbildern wie der lumbalen Vertebrostenose, Kaudakompressionen, spinalen AV-Malformationen, dorsalen spinalen Kompressionen, distalen Myopathien und auch der selten als Erstsymptom auftretenden „pseudoneuritischen Form der ALS“ auftreten. Fast alle der genannten Krankheitsbilder haben aber anamnestische Besonderheiten, die zur richtigen Diagnose führen. Als Beispiel seien die bewegungsabhängigen Sensibilitätsstörungen bei der lumbalen Vertebrostenose angeführt.

Warum ist die Kenntnis der Prodrome so wichtig?

Zahlreiche PNP treten im Rahmen von anderen, oft behandelbaren Krankheitsbildern auf. Diabetes mellitus ist ein gutes Beispiel, und nicht selten kann die sorgfältige neurologische Untersuchung den ersten Hinweis für das Bestehen eines Diabetes mellitus geben und zu einer guten Einstellung führen. Die Vermeidung des „diabetischen Fußes“ ist eine wichtige Aufgabe bei der interdisziplinären und multiprofessionellen Betreuung. Subtile Zeichen der Neuropathie, wie sie bei der Untersuchung gefunden werden können, können bereits zu Funktionseinschränkungen und in weiterer Folge auch zu Behinderungen führen und die Lebensqualität negativ beeinflussen. Studien bei PatientInnen mit Diabetes mellitus haben gezeigt, dass in komplexen Untersuchungsanordnungen bereits alle PatientInnen mit subklinischer PNP durch die PNP in ihren Funktionen eingeschränkt waren. Dies gilt auch für die chemotherapieinduzierte PNP, bei der frühe Zeichen berücksichtigt werden sollten.
Die Behandlung von PNP-Syndromen richtet sich nach der Ursache, und ein therapeutischer Nihilismus sollte durch aktive Maßnahmen ersetzt werden. Zugegeben sind kausale Therapien bei vielen Formen von PNP nicht verfügbar, aber bei fast allen PatientInnen lassen sich Verbesserungen oder Linderungen, sei es durch Schmerztherapie, physiotherapeutische Behandlung, Verordnung von Behelfen oder systematisches Training, erreichen.

 

Literatur:
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