Gender-Aspekte bei alten Menschen mit Diabetes – Das „health-survival paradox“

Im Jahr 2011 betrug in Österreich die Lebenserwartung für männliche Neugeborene 78,11 Jahre und für weibliche Neugeborene 83,45 Jahre; für das Jahr 2050 wird eine Lebenserwartung von 85,95 Jahren (Männer) bzw. 89,49 Jahren (Frauen) prognostiziert. Die Zunahme der Lebenserwartung stellt eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft dar. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen dieser Entwicklung werden schon länger diskutiert. Was bedeutet Letzteres aber für die Medizin und welche Rolle nehmen „Sex“ und „Gender“ im Alterungsprozess ein?

Lebenserwartung und Lebensqualität

Je älter die Bevölkerung, desto höher wird der Anteil der Frauen. Von den über 94‑Jährigen waren 2011 in Österreich 19,4 % männlich und 80,95 % weiblich. Bei Kenngrößen, wie z. B. „Lebensqualität“ oder „Beeinträchtigungsgrad“ wird ersichtlich, dass im Alter nicht nur quantitative Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen. Generell geben Frauen in allen Altersstufen eine schlechtere Lebensqualität als Männer an. Frauen verbringen mehr Lebensjahre mit chronischen Krankheiten und funktionalen Beeinträchtigungen als Männer. Betrachtet man die Anzahl der in Gesundheit verbrachten Lebensjahre in OECD-Ländern, so geben Männer durchschnittlich 58,2 Jahre (bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 77,1) und Frauen 60,2 Jahre (bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 82,7) an (OECD, Health at a Glance: Europe 2010; Abb. 1). Obwohl Frauen älter werden als Männer, ist die Dauer der „unbeeinträchtigten“ Lebensjahre annähernd gleich wie bei Männern. Frauen haben also eine höhere Lebenserwartung, verbringen diese aber weniger qualitativ, während Männer zwar generell gesünder sind, dafür aber früher versterben (Vaupel, Nature 2010). Dies ist auch als „male-female health-survival paradox“ bekannt (Oksuzyan et al., Aging Clin Exp Res 2008). Die Ursachen für dieses Paradoxon sind nicht geklärt. Ein multifaktorieller Ansatz ist hierfür aber anzunehmen. Demnach spielt sowohl das biologische Geschlecht („sex“) als auch das soziale Geschlecht („gender“) eine zentrale Rolle.

 

 

Unterschiedliche Verteilung der Krankheitsbilder

Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich in zahlreichen altersrelevanten Krankheitsbildern. So traten 75,6 % aller Femurfrakturen bei über 65-Jährigen im Jahr 2010 in Österreich bei Frauen auf (Statistik Austria 2011). Das erhöhte Risiko ergibt sich neben der höheren Lebenserwartung durch die erhöhte Sturzneigung von Frauen im Vergleich zu Männern sowie durch die geringere Knochendichte. Osteoporose betrifft generell mehr Frauen als Männer in jeder Altersstufe. Von Inkontinenz sind laut eigenen Angaben 15 % der älteren Frauen und 9 % der gleichaltrigen Männer betroffen. Ältere Frauen sind außerdem häufiger von Arthrose betroffen (Bundesministerium für Gesundheit, Gesundheit und Krankheit der älteren Generation in Österreich 2012; Abb. 2).

 

 

Demenz ist bei den über 90-jährigen Frauen die häufigste Erkrankung, während bei Männern dieser Altersgruppe weiterhin die kardio- und zerebrovaskulären Erkrankungen dominieren, wobei hier unterschiedliche geschlechtsspezifische Kennzahlen je nach Art der Demenz zu erwähnen sind: Frauen haben im Vergleich zu Männern ein um 20–30 % erhöhtes Risiko für Alzheimer-Demenz (AD), während Männer doppelt so häufig wie Frauen von der Demenz mit Lewy-Körperchen und zwei- bis dreimal häufiger von der frontotemporalen Demenz betroffen sind. Rezent konnte gezeigt werden, dass unabhängig von Alter, Bildung und Ausprägung der Erkrankung Männer mit AD im Vergleich zu Frauen mit AD deutlich bessere Ergebnisse in allen Bereichen der kognitiven Funktionen aufzeigen (Irvine et al., J Clin Exp Neuropsychol 2012).
Die Inzidenz von Krebserkrankungen steigt mit höherem Lebensalter bis zum Alter von 90 Jahren an. Ist bis zum Alter von 50 Jahren die Krebsinzidenz für Frauen höher, kehrt sich dieser geschlechtsspezifische Unterschied mit steigendem Lebensalter zuungunsten der Männer um.
Umgekehrt verhält es sich mit der Prävalenzrate von Diabetes mellitus. Während in der Gruppe der 65- bis 74-Jährigen mehr Männer als Frauen betroffen sind, ist die Prävalenz ab 75 Jahren bei Frauen höher (Abb. 2).

Geriatrische Syndrome

Neben diesen bekannten Krankheiten treten im Alter vermehrt sogenannte geriatrische Syndrome oder Alterssyndrome auf (siehe auch die Beiträge Diabetes im Alter und Sturz- und Frakturprophylaxe), die nicht auf eine einzelne Ursache, sondern vielmehr auf ein Zusammenspiel verschiedenster Faktoren zurückzuführen sind (Inouye et al., J Am Geriatr Soc 2007). Fried et al. (J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2001) konnten zum Beispiel für das „Frailty“-Syndrom zeigen, dass bei einer allgemeinen Prävalenz von 7 % Frauen häufiger betroffen sind als Männer; Frailty wiederum ist mit höheren Raten an kardiovaskulären Erkrankungen, Lungenerkrankungen, Arthritis sowie Diabetes mellitus assoziiert und erhöht das Risiko für Stürze sowie für Hospitalisierung, Behinderung und Tod.

Pflegebedürftigkeit

Bei beiden Geschlechtern ist zu berücksichtigen, dass sich mit zunehmendem Alter das akute Beschwerdebild verändert. So werden z. B. im Fall des akuten Myokardinfarkts Symptome wie Verwirrtheit, körperlicher Verfall oder plötzliche Atemnot bei Männern und bei Frauen dominant. Ebenso sinkt mit steigendem Alter die körperliche Funktionsfähigkeit bei beiden Geschlechtern. Frauen sind von diesem Verlust jedoch stärker betroffen als Männer. So ist auch die objektiv gemessene Mobilität bei Frauen häufiger und schwerwiegender eingeschränkt. Frauen bedürfen daher bei alltäglichen Tätigkeiten auch signifikant mehr Unterstützung als gleichaltrige Männer (Baltes & Mayer [Hrsg.], Die Berliner Altersstudie 1996).
Hieraus ergibt sich u. a. auch der mit 80 % hohe Pflegebedarf der hochaltrigen Frauen. Dieser muss überwiegend institutionell geleistet werden, da für private Pflege niemand mehr zur Verfügung steht (Bundesministerium für Gesundheit, Gesundheit und Krankheit der älteren Generation in Österreich 2012). Von den Personen über 80 Jahren leben 58,9 % der Männer, aber nur 10,5 % der Frauen mit einem Partner zusammen.
Als weiterer Gender-Aspekt muss hierbei beachtet werden, dass Pflege und Betreuung von älteren Menschen vor allem von weiblichen Angehörigen bzw. weiblichen Pflegekräften durchgeführt werden. So kann ein weiblicher Anteil von 79 % beim Pflegepersonal festgestellt werden (Bundesministerium für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz, Situation pflegender Angehöriger 2005).

Polypharmazie

Mit zunehmendem Alter steigt auch die Anzahl der täglich eingenommenen Medikamente: 16 % der Personen zwischen 65 und 74 Jahren nehmen regelmäßig mindestens fünf Medikamente ein. Laut Arzneimittelreport (2012) der Barmer Gesetzlichen Krankenkasse in Deutschland werden ärztlicherseits um 22 % mehr Rezepte an Frauen ausgestellt als an Männer (Abb. 3). Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede lassen sich medizinisch kaum begründen, widersprechen den Leitlinien und zeugen von einem hohen Abhängigkeitspotenzial – vor allem bei der Einnahme von Psychopharmaka liegen Frauen weit vor den Männern.

 

 

Psychosoziale Aspekte

Auch der geschichtliche Kontext der heutigen Generation der über 60-Jährigen ist zu beachten. Der überwiegende Teil dieser Gruppe hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt oder ist in diesem Zeitraum geboren worden. Posttraumatische Belastungsstörungen sind bei über 65-Jährigen häufig und spielen auch Jahrzehnte nach dem Krieg eine große Rolle. Für 6,6 % der Männer und Frauen zwischen 60 und 85 Jahren ließen sich Symptome einer Depression feststellen, wobei Männer doppelt so häufig Symptome der Minor Depression als die der Major Depression zeigten. Bei Frauen hingegen zeigten sich beide Formen der Depression gleich häufig. Für Männer konnten Glaesmer et al. (Int Psychogeriatr 2011) zeigen, dass steigendes Alter, niedrigeres Haushaltseinkommen, Anzahl der diagnostizierten Krankheiten und niedrige soziale Eingebundenheit zu den Risikofaktoren für eine Depression zählen. Für Frauen waren Anzahl der diagnostizierten Krankheiten und die soziale Eingebundenheit Risikofaktoren für depressive Symptome. Obwohl Männer seltener Symptome einer Major Depression zeigen, ist die Suizidrate bei Männern im höheren Alter deutlich höher als bei gleichaltrigen Frauen.
Zusätzlich zu den körperlichen und psychischen Veränderungen erleben alte bzw. alternde Menschen Veränderungen in ihrem sozialen und gesellschaftlichen Leben. Neben dem Verlust von Partner oder Partnerin, Geschwistern und Freunden sind auch die sozioökonomische Lage und die damit verbundene soziale Vulnerabilität in Betracht zu ziehen. Letztere ist ebenso für Frauen und Männer unterschiedlich ausgeprägt. So betrug die monatliche Durchschnittspension für Unselbstständige im Jahr 2005 für Frauen im Alter über 80 Jahren 629 Euro und für gleichaltrige Männer 1.090 Euro (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, Hochaltrigkeit in Österreich. Eine Bestandsaufnahme 2009). 26 % der allein lebenden Pensionistinnen sind armutsgefährdet; damit haben allein lebende Pensionistinnen neben Alleinerzieherinnen das höchste Armutsrisiko. Besonders betroffen vom Phänomen der Altersarmut sind hochaltrige Frauen (Mayrhuber, WIFO-Monatsberichte 2006).

„Altersbilder“ im Wandel

Wenn Altern als Umgang mit Veränderungen gesehen wird, dann muss beachtet werden, dass neben den genannten individuellen Veränderungen auch das Bild, das die Gesellschaft von älteren Personen hat, im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte einem enormen Wandel unterzogen war. Sogenannte „Altersbilder“ sind sozial konstruiert und bilden sich im Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft heraus. Determinanten wie „das soziale Geschlecht“ spielen in der Entstehung solcher Bilder natürlich eine zentrale Rolle. Aber auch unsere Sicht vom „qualitativen Altern“ hat sich verändert. So definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) „aktives Altern“ als: „(…) den Prozess der Optimierung der Möglichkeiten von Menschen, im zunehmenden Alter ihre Gesundheit zu wahren, am Leben ihrer sozialen Umgebung teilzunehmen und ihre persönliche Sicherheit zu gewährleisten, und derart ihre Lebensqualität zu verbessern” (WHO, Aktives Altern: Rahmenbedingungen und Vorschläge für politisches Handeln 2002).
Unter Berücksichtigung der oben genannten geschlechtsspezifischen körperlichen Veränderungen kam eine Studie, welche die Variable „Geschlecht“ in Bezug auf das „aktive Altern“ untersuchte, zu folgendem Schluss: „Being a woman and a number of diagnosed diseases were risk factors against active ageing“ (Lopez et al., J Biosoc Sci 2011).

Resümee

Alter(n) ist sowohl als Zustand als auch als Prozess ein hochkomplexes Thema. Die Symptomatik des Alterns ist unspezifisch, die Ursachen multifaktoriell, Auswirkungen betreffen sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft. Obwohl jede Ebene dieses Prozesses/Zustands relevante geschlechtsspezifische Unterschiede aufzeigt, existiert bisher keine Typologie des Alter(n)s speziell für Männer und Frauen. Ursächlich hierfür ist, dass viele geschlechtsspezifische Fragen im Kontext „Alter(n)“ bisher unbeantwortet sind bzw. überhaupt noch nicht gestellt wurden. Es ist höchste Zeit, diese Fragen zu stellen, um eine nachhaltige qualitativ hochwertige medizinische Versorgung beider Geschlechter sicherzustellen!