Der deutsche Bundesgerichtshof hat in einem Urteil vom 6. Juli 2010 die Auffassung vertreten, dass aus dem ESchG für heutige, auf Grund des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts gewandelte Formen der PID kein Verbot mehr abgeleitet werden kann.
Die Präimplantationsdiagnostik (PID; englisch: Preimplantation Genetic Diagnosis – PGD) ist ein Diagnoseverfahren, das Eltern, die ein hohes Risiko für die Geburt eines Kindes mit einer schweren erblichen Krankheit oder von genetisch gleichermaßen bedingten Totund Fehlgeburten haben, die Geburt eines Kindes ermöglicht, das von der betreffenden Krankheit nicht betroffen ist.
Voraussetzung einer PID ist die Fertilisation von Eizellen im Reagenzglas (IVF, In-vitro-Fertilisation). Die kultivierten Embryonen werden vor dem Transfer auf die genetische (erbliche) Veränderung untersucht, die für die befürchtete erbliche Krankheit verantwortlich ist. Die dazu notwendige genetische Untersuchung kann an pluripotenten Zellen der Embryonen durchgeführt werden. Anschließend werden nur die nicht die Krankheitsanlage tragenden Embryonen in die Gebärmutter der Frau transferiert. Die als betroffen erkannten Embryonen lässt man absterben.
Die PID kann als die früheste Form der vorgeburtlichen Diagnostik (Pränataldiagnostik, PND) aufgefasst werden. Pluripotente Zellen unterliegen keinem gesetzlichen oder ethischen Verwendungsverbot. Die Entnahme der Zelle aus dem Embryo erhöht bei sachgemäßer Durchführung das Verletzungsrisiko für den Embryo nach heutiger Erkenntnis nicht und senkt die Wahrscheinlichkeit der Nidation nicht herab. Bisher existieren etwa 3.500 Krankheiten, deren genetische Grundlage bekannt ist. Die meisten dieser monogenen Krankheiten sind selten bzw. sogar extrem selten.
Risiken einer Fehldiagnose im Rahmen einer PID: Eine genetische Diagnostik im Rahmen einer PID ist mit einer Sicherheit von rund 99 % grundsätzlich sehr zuverlässig. In einer Globalanalyse der Ergebnisse der ESHRE-Daten (European Society of Human Reproduction und Embryology), die allerdings auf freiwilligen Angaben der beteiligten Arbeitsgruppen beruhen, wurden in 0,67 % der Fälle von Fehldiagnosen nach PID berichtet.
Weite Verbreitung der PID in Europa und in den USA: Die PID mit nachfolgender Auswahlentscheidung der Frau wird seit 1990 in vielen Ländern der Welt, v. a. in Europa und in den USA, durchgeführt. In Europa wird sie nur in ganz wenigen Ländern nicht durchgeführt, neben Deutschland z. B. in Österreich; in der Schweiz steht die Revision des noch bestehenden Verbots offenbar unmittelbar bevor. Eine ganze Reihe von Ländern hat die PID explizit erlaubt, in anderen Ländern ist die rechtliche Situation unklar, weil sowohl ein ausdrückliches Verbot als auch eine ausdrückliche Erlaubnis fehlen. Das Konsortium für Präimplantationsdiagnostik der ESHRE trägt die weltweiten Daten zur PID seit Jänner 1997 zusammen. An der Datenerfassung haben 57 Zentren weltweit teilgenommen. Im Jahr 2006 wurden unter 5.858 Zyklen zur Eizellgewinnung und In-vitro-Fertilisation 1.876 Zyklen mit anschließender Präimplantationsdiagnostik durchgeführt. Insgesamt resultierten 1.437 Schwangerschaften und 1.206 geborene Kinder.
Obwohl weitweit pro Jahr über 600.000 Zyklen zur In-vitro- Fertilisation durchgeführt werden, wurde im Jahr 2006 nur in den oben genannten 1.876 Fällen (also in 0,3 % aller Zyk len eine PIS durchgeführt. Dies zeigt, dass die Indikation zur Präimplantationsdaignostik sehr streng gestellt wird und damit der befürchtete Dammbruch mit Ausweitung der Indikationen nicht erkennbar ist.
Medizinethik: Eine in engen Grenzen gehaltene PID wird von ihren Befürwortern vor allem mit den Interessen und Rechten der Eltern begründet. Diese (normative) Begründung liegt der Gesetzgebung in den meisten europäischen Ländern, in den USA, in Australien und in Israel zugrunde. Gegner der PID hingegen lehnen diese aus mindestens einem von drei Gründen ab: weil die PID in der Regel mit der Zerstörung von Embryonen einhergehe, was gegen deren Lebensrecht verstoße; weil bei der PID die Gefahr der Ausweitung drohe oder weil die PID eine Diskriminierung derjenigen Menschen darstelle, die mit den Krankheiten leben, deren Vermeidung die PID dienen soll.
Die PID ist also ebenso wie die PND (Pränataldiagnostik) Zeichen des objektiv unlösbaren Konflikts zwischen der Schutzwürdigkeit der sozialen und gesundheitlichen Lebensinteressen der Frau einerseits und der Schutzwürdigkeit des Lebensrechts des Embryos andererseits.
• Empfehlung 1: Eine begrenzte Zulassung der PID und die damit verbundenen Folgen für den Embryo sollten der PND und der Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs gleichgestellt werden, unter der Voraussetzung, dass sich die PID-Zulassung auf nicht-totipotente Zellen des Embryos in vitro beschränkt.
• Empfehlung 2: Die Voraussetzung für das Handeln von Frau und Arzt/Ärztin im Rahmen einer PID ist, dass es von Anfang an auch auf die Herbeiführung einer Schwangerschaft abzielt.
• Empfehlung 3: Die Untersuchung darf nur bei Paaren durchgeführt werden, für deren Kinder medizinisch objektiv ein hohes Risiko des Ausbruchs einer bekannten und schwerwiegenden monogenen Krankheit oder einer erblichen Chromosomenstörung besteht oder mit einer Tot- oder Fehlgeburt zu rechnen ist. Es dürfen nur genetische Konstellationen untersucht werden, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu der betreffenden Krankheit führen würden.
• Empfehlung 4: Für die Zulässigkeit der PID sollte keine Altersgrenze des Krankheitsausbruchs festgelegt werden.
• Empfehlung 5: Die Zellentnahmemethode aus dem Embryo für die PID beschränkt sich ausschließlich auf nicht-totipotente Zellen und darf den Embryo keiner erhöhten Schädigung und Untergangsgefahr und keiner erniedrigten Nidationschance aussetzen. Jegliche PID an totipotenten Zellen soll eindeutig untersagt und von Strafe bedroht bleiben.
• Empfehlung 6: Die PID darf lediglich zum Ausschluss bzw. zur Diagnostik einer schweren Erbkrankheit eingesetzt werden, wenn der Embryotransfer noch im selben Zyklus möglich oder bei unvorhergesehenen Hindernissen eine vorübergehende Kryokonservierung möglich ist.
• Empfehlung 7: Der PID hat eine ausführliche frauenärztlich- reproduktionsmedizinische und humangenetische Information und Beratung, verbunden mit dem Angebot einer psychosozialen Beratung vorauszugehen.
• Empfehlung 8: Für den Fall eines positiven Befundes ist das Recht der Frau zu garantieren, ihrer Gewissensentscheidung zu folgen. Das Absterbenlassen durch Unterlassen der Versorgung eines Embryos, dessen Transfer die Frau ablehnt, muss explizit erlaubt sein.
• Empfehlung 9: Die PID darf nicht für staatlich oder gesellschaftlich definierte Ziele verwendet werden, die außerhalb des Wohls des betroffenen Paares liegen. Dieses Verbot gilt weiterhin für eine Wunschregulierung der Zusammensetzung genetischer Anlagen von Kindern nach dem Willen der Eltern, für die Nutzung von Embryonen für Forschungszwecke, für eine Geschlechtsbestimmung ohne genetischen Krankheitsbezug und für Untersuchungen auf neu entstandene, also nicht erbliche Chromosomenstörungen (Aneuploidie-Screening).
• Empfehlung 10: Es sollte eine sachverständige Stelle benannt werden, die Ausführungsbestimmungen bzw. Richtlinien zur Durchführung der PID erlässt. Die PID sollte nur an wenigen dafür von der benannten Stelle zugelassenen und regelmäßig kontrollierten Einrichtungen durchgeführt werden dürfen.
• Empfehlung 11: Auf eine Liste von Krankheiten sollte der Gesetzgeber verzichten.
• Empfehlung 12: Ungeachtet einer möglichen Änderung des GenDG bzw. der Verabschiedung eines PID-Gesetzes wird die Verabschiedung eines umfassenden Fortpflanzungsmedizingesetzes empfohlen.
SCHLUSSBEMERKUNG: Eine Umsetzung der vorliegenden Empfehlungen vermeidet einen von vielen befürchteten Dammbruch, indem eine PID nur begrenzt zugelassen werden soll. Die Eindämmung gilt sowohl in Bezug auf die Zahl von PIDs in Deutschland als auch in Richtung zum sog. „Designerbaby“. Da sich die PID nur für monokausale Krankheiten eignet, kann es pro Jahr nur eine begrenzte Anzahl von Untersuchungen geben.
Dazu eine Anmerkung zu Österreich: Durch ein aufsehenerregendes Urteil des deutschen Bundesgerichtshofs, in dem die Richter in der PID keinen Verstoß gegen das deutsche Embryonenschutzgesetz erkennen konnten, wurde auch in Österreich die Diskussion um die Zulässigkeit der PID und um genetische Veränderungen an Embryonen erneut entfacht. Sollten also österreichische Ärzte in Zukunft Embryonen außerhalb des Mutterleibs im Rahmen einer medizinisch unterstützen Fortpflanzung auf Erbkrankheiten hin untersuchen dürfen?
Die österreichische Bioethikkommission hat zur PID keinen einheitlichen Standpunkt: 12 der damals 19 Mitglieder sprachen sich bereits 2004 für eine beschränkte Zulassung der PID aus, wobei die PID für Paare zugelassen werden solle, die ein hohes Risiko aufweisen, ein Kind mit schwerer genetisch bedingter Erkrankung zu bekommen.
In Deutschland herrscht nach dem Urteil des BGH derzeit noch Rechtsunsicherheit, allerdings zeigt die Ad-hoc-Stellungnahme, dass die Diskussion bereits sehr aktiv geführt wird. Wird die PID in Deutschland erlaubt, so ist mit zweifellos (zumindest bis zu einer entsprechenden Regelung in Österreich) mit einem „PID-Tourismus“ österreichischer Paare nach Deutschland zu rechnen.
1 Quelle: Ad-hoc-Stellungnahme: Präimplantationsdiagnostik (PID) – Auswirkungen einer begrenzten Zulassung in Deutschland, 18. 1. 2011