Dass sich die emotionalen Reaktionen von Therapeuten auf einen Suizid nicht von anderen Menschen unterscheiden, hatte bereits Litman 1965 festgestellt1. „Auslöser für unsere eigene Untersuchung zur Belastung nach einem Patientensuizid war die Studie von Hendin et al.2, der Gefühle wie Schock, Trauer, Schuldgefühle, Selbstzweifel, Beschämung, Wut oder Enttäuschung als die wichtigsten Therapeutenreaktionen identifizierte“, sagte Prim. Univ-Prof. Dr. Friedrich Martin Wurst, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Christian- Doppler-Klinik, Salzburg. Für diese Untersuchung3 wurde ein aus 63 Items bestehender Fragebogen, der den Therapeuten, seine Reaktionen auf den Suizid und den Patienten charakterisiert, entwickelt. Die Befragung erfolgte retrospektiv für den Zeitraum der letzten 5 Jahre. Outcome Measure war die Therapeutenreaktion unmittelbar, 2 Wochen und 6 Monate nach dem Suizid eines Patienten. Befragt wurden Psychiater und Psychologen der Arbeitgemeinschaft Suizidalität und psychiatrisches Krankenhaus in 16 süddeutschen psychiatrischen Kliniken sowie die in Basel niedergelassenen Therapeuten.
Stationär häufig Suizide erlebt: Wie die Ergebnisse zeigen, hatten nur wenige ambulant Tätige in den vergangenen fünf Jahren einen Suizid erlebt, von den 125, die den Fragebogen beantworteten, waren es 21. Hingegen hatten 38 von 45 stationär tätigen Therapeuten einen oder mehrere Suizide erlebt, eine Person sogar fünf Suizide. „Für den klinischen Alltag von Bedeutung ist, dass die Hälfte der Suizide während der ersten stationären Behandlung und weitere 25 % während des zweiten stationären Aufenthaltes passieren. Dieser Trend bei frühen Hospitalisationen wurde auch in anderen Studien gefunden“, betonte Wurst (Abb.). Ein Drittel der Suizide werden auf dem Klinikgelände begangen. 30 % der Patienten, die sich während der stationären Behandlung suizidierten, hatten eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, 55 % eine affektive oder Anpassungsstörung.
Bei den Therapeutenreaktionen nach dem Suizid zeigte sich, dass alle Emotionen (traurig, schuldig, wütend, erleichtert, schockiert, beschämt, ungläubig, gekränkt, unzulänglich), die mittels visueller Analogskala erhoben wurden, im Zeitverlauf abnahmen. Ein signifikanter Unterschied zwischen stationär und ambulant Tätigen wurde nicht beobachtet, außer dass die ambulanten Therapeuten sich anfangs erleichtert fühlten, die stationären nicht. Die emotionalen Reaktionen waren auch nicht unterschiedlich, wenn die Prognose eher als günstig oder als ungünstig eingeschätzt wurde oder wenn dezidiert nach Suizidalität gefragt wurde. Allein wenn die Beziehung zum Patienten als eher gut beurteilt wurde, war die Trauer größer. Ein Drittel der Therapeuten – vermehrt Frauen – litten unter einer hohen Belastung und zeigten signifikant höhere Werte für traurig, schuldig, schockiert, beschämt, gekränkt und unzulänglich. Die emotionalen Reaktionen unmittelbar nach einem Suizid seien ein Prädiktor für die Gesamtbelastung und würden zu 72 % die Unterschiede zwischen geringer und hoher Belastung erklären, wie eine Regressionsanalyse ergab. Für den klinischen Alltag könnte daher, so Wurst, ein Screening mit einer Frage zur Gesamtbelastung hilfreich sein, um jene Personen zu identifizieren, die nach einem Suizid vermehrte Betreuung benötigen.
Die Ergebnisse dieser Studie seien im Wesentlichen durch eine weitere Um – frage in psychiatrischen Abteilungen in Algemeinkrankenhäusern in Deutschland bestätigt worden. „In dieser Untersuchung hatten nur 20 % der Therapeuten den Patienten beim letzten Kontakt als suizidal eingeschätzt, zwei Drittel hatten nach Suizidgedanken gefragt. Das zeigt, wie schwierig die Einschätzung der Suizidalität ist“, meinte Wurst.
Quelle: DGPPN-Kongress, Symposium „Suizidhinterbliebene – ein Thema, vier Perspektiven“, 24. 11. 2010, Berlin
1 Litman R, When patients commit suicide. Am J Psychother 1965; 19(4):570-76
2 Hendin H et al., Therapists reactions to patients suicide. Am J Psychiatry 2000; 157:2022-27
3 Wurst FM et al., Patient suicide: a survey of therapists’ reactions. Suicide Life Threat Behav 2010; 40(4):328-36