Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen sind besonders häufig von Stigmatisierung betroffen. Sie werden als willensschwach, faul, verrückt etc. bezeichnet. Personen mit Migrationshintergrund erfahren ebenso oft Stigmatisierung im Sinne einer negativen Merkmalsund Eigenschaftszuschreibung. Daher addiert oder multipliziert sich bei abhängigkeitserkrankten Personen mit Migrationshintergrund dieses „Brandmal“ und die sich aus der Erkrankung ergebenden gesellschaftlichen Konsequenzen wiegen zumeist stärker als die Krankheit selbst. Laut Statistik Austria1 werden wir im Jahr 2035 aufgrund des Bevölkerungswachstums die 2 Millionen Grenze für Wien erreichen. Der Ausländeranteil wird im gesamten Stadtgebiet von 19 % auf künftig 28 % steigen. Dafür verantwortlich ist nicht die klassische Zuwanderung aus den Herkunftsländern Ex-Jugoslawien und der Türkei, sondern vor allem jene aus den (neuen) EU-Mitgliedsstaaten. Im Unterschied zu früheren Zuwanderungswellen spielt bei zukünftigen Zuwanderungen der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft nur mehr eine unwesentliche Rolle.
Vor diesem demographischen Hintergrund und der damit wachsenden Notwendigkeit für Patienten mit Migrationshintergrund ein entsprechendes therapeutisches Angebot vorweisen zu können, wurde am Anton-Proksch-Institut die Arbeitsgruppe XENIA gegründet. Namensstifterin ist Xenia, „die Gastfreundliche“. Bemerkenswert ist, dass offensichtlich im Griechischen Gast und Gastgeberin eine gemeinsame semantische Wurzel aufweisen. Eine Variante dieses Namens ist Polyxenia, die Schwester der Kassandra. Polyxenia, die „viele Fremde Beherbergende“, ist eine trojanische Prinzessin aus der griechischen Mythologie. Als Tochter des Priamos und der Hekabe ist sie eine jüngere Schwester von Kassandra, Paris und Hektor.
Während der trojanischen Kriege verliebte sich Achilles in sie, doch als Priesterin Athenes musste sie Jungfrau bleiben. Nach dem Fall Trojas wurde Polyxenia Gefangene der Griechen. Beim Abzug aus Troja erschien Achilles seinem Sohn im Traum und verlangte, die Griechen sollen ihm das Schönste und Beste als Beute opfern. Es ist bezeichnend, dass sie Polyxenia „die Gastfreundliche“ wählten. Sie führten sie an Achilles Grab und opferten sie dort. Auch heute noch fällt Gastfreundschaft allzu oft Restriktionen der Wirtschaft, der Politik und der Kultur zum Opfer.
Interkulturelle Kompetenz: Die interkulturelle Arbeitsgruppe XENIA hat sich zum Ziel gesetzt, interkulturelle Kompetenz in möglichst vielen Bereichen des Anton Proksch Instituts einfließen zu lassen. Interkulturelle Kompetenz versteht sich in diesem Kontext als Fähigkeit, mit Menschen aus anderen Kulturen erfolgreich zu kommunizieren. Dabei geht es um die Überwindung kultureller Barrieren wie mangelndes Sprachverständnis, fremde Umgangsgewohnheiten, andere Konfliktlösungsmodelle und -strategien, sowie eine Annäherung an das kulturell beeinflusste, oft fremd wirkende und manchmal kaum nachvollziehbare Krankheitsverständnis des Betroffenen.
Für die Zusammenstellung der 2008 ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe war neben der Kultur- und Sprachkompetenz der Kollegen, auch die multiprofessionelle Ausrichtung von entscheidender Bedeutung.
Die Aktivitäten der Arbeitsgruppe beruhen im Wesentlichen auf vier Säulen (Abb. 2).
Bei der „interkulturellen Anlaufstelle“, einer Informationsgruppe der Sozialarbeit, finden Patienten nichtdeutscher Muttersprache sowie Fachpersonal Hilfestellungen bei Problemen und Anliegen während des stationären Aufenthaltes. Wenn Patienten ihren Therapeuten, ihren Arzt nicht genau verstanden haben, wenn Patienten Fragen zu bestimmten Angeboten des Instituts haben, wenn Betreuungsabläufe nicht verstanden werden, wenn es Probleme beispielsweise mit Zimmernachbarn oder auch dem Personal gibt, können hier diese kulturellen und sprachlichen Barrieren zumeist überwunden werden. Die „Infogruppe“ der Sozialarbeit für Migranten hat sich zum Ziel gesetzt, Informationen zu den Angeboten der Sozialarbeit und Aktivierung für Patienten nichtdeutscher Muttersprache anzubieten. Zielgruppe sind vor allem bosnisch/ kroatisch/serbische (BKS) und türkische Patienten. Für diese stehen Termine in 14-tägigen bzw. einmonatigen Intervallen zur Verfügung.
Neben diesem Angebot wurde auch die bestehende Patientenbücherei um fremdsprachige Bücher, vor allem aus den Ländern BKS und Russland, durch Spenden des Instituts für Slawistik der Universität Wien erweitert. Oft ist es schon ohne kulturelle Unterschiede schwierig, im therapeutischen Prozess Beziehungen aufzubauen. Umso komplexer ist diese Beziehungsgestaltung mit Patienten nichtdeutscher Muttersprache. Ebenso kann es vorkommen, dass Patienten mit Migrationshintergrund Probleme haben, sich auf den therapeutischen Prozess einzulassen, wenn dieser vorwiegend nicht in der Muttersprache stattfindet. Daher wurde innerhalb des API aus dem bestehenden therapeutisch- medizinischen Personal sowie nichtmedizinischen Personal eine Gruppe Laiendolmetscher bzw. interkultureller Übersetzer gebildet.
Damit stehen im klinischen Bereich Kulturübersetzer für die Sprachen Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Spanisch, Ungarisch, Arabisch und Französisch sowie Polnisch und Türkisch zur Verfügung. Dies deckt zu ca. 80 % den Bedarf an Fremdsprachenkompetenz ab.
In einer Stichtagserhebung im Dezember 2009 wurden die Patienten bezüglich ihrer Herkunft und eventuell auftretender soziokultureller Probleme innerhalb des therapeutischen Angebotes befragt.
64 % aller Patienten wurden befragt, sodass zwar nicht von einer Vollerhebung, sehr wohl jedoch von einer repräsentativen Stichprobengröße ausgegangen werden kann, zumal Patienten mit Migrationshintergrund bei sprachlichen Problemen dolmetschende Mitpatienten zur Seite gestellt wurden. Nach den Kriterien der UNECE2 gibt es durchschnittlich 19,7 % Migranten der ersten Generation und 5,7 % Migranten der zweiten Generation im API. Ein Viertel aller Patienten weist einen Migrationshintergrund auf. Damit ist der Anteil an Migranten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um ca. 8 % höher. Die häufigsten Herkunftsländer sind in Abbildung 2 dargestellt.
Pathologisches Spielen häufiger: Signifikant weniger Männer mit Migrationshintergrund weisen eine Alkoholabhängigkeit auf, statt dessen wird häufiger eine Medikamentenabhängigkeit diagnostiziert. Unter den Patienten mit pathologischen Spielen haben knapp die Hälfte einen Migrationshintergrund. Das heißt, der Prozentsatz der Patienten mit Migrationshintergrund ist bei der Spielsucht deutlich höher als bei anderen Abhängigkeitserkrankungen. Wir wissen, dass neben der Droge und ihrer Wirkung sowie Persönlichkeitsfaktoren, vor allem auch die Verfügbarkeit von bedeutender Relevanz für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung ist (multifaktorielles Bedingungsgefüge). Neben religiösen Aspekten scheinen aber auch kulturell bedingte unterschiedliche Wertsysteme, Schwierigkeiten vor, während und nach dem Migrationsprozess3 genetische Faktoren (Vulnerabilität) und eine Vielzahl weitere Faktoren von Bedeutung für die „Wahl“ des „Suchtmittels“ zu sein. Eine Reduktion auf rein religöse Faktoren als Grundlage für die unterschiedliche Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen von Personen aus verschiedenen Kulturen, greift hier viel zu kurz und würde wiederum zu Vorurteilen bzw. falschen Urteilsheuristiken mit Attributionsfehlern führen.
Bildung und Arbeit: In unserer Untersuchung weisen Migranten ein deutlich anderes Bildungsprofil auf als jene Personen, die in Österreich geboren sind, das sich weitgehend mit Befunden aus der Allgemeinbevölkerung deckt. Unter den Migranten gibt es überproportional viele, die entweder besonders gut oder besonders schlecht gebildet sind, während Österreicher besonders häufig die mittlere Bildungsebene aufweisen1. Dies hat auch unmittelbaren Einfluss auf die Erwerbsquote. Sie ist bei Migranten deutlich niedriger, jedoch handelt es sich hier um eine sehr heterogene Gruppe. Während es bei den Frauen mit Migrationshintergrund kaum Unterschiede in Bezug auf den Berufsstand zu den österreichischen Patientinnen gibt, fällt die deutlich erhöhte Arbeitslosigkeit von über 80 % bei den Männern mit Migrationshintergrund unter den API Patienten auf. Gerade im Bereich der beruflichen Reintegration scheint dies somit eine besonders große und daher wichtige Zielgruppe zu sein.
Sprache und Inanspruchnahme der Angebote: Im Rahmen der Erhebung wurden die Patienten auch gefragt, inwiefern sie sich mit ihrem Herkunftsland verwurzelt fühlen. Während sich 36 % der Migranten sowohl mit ihrem Herkunftsland als auch mit Österreich verwurzelt fühlen, empfinden sich 5,3 % der Migranten in keinem Land verwurzelt. Viermal so viele Patienten mit Migrationshintergrund fühlen sich mit Österreich nicht verwurzelt. Dieser Effekt wird umso geringer je länger jemand in Österreich lebt.
Dies macht sich unter anderem auch in der Sprache, in der vorrangig kommuniziert wird, bemerkbar. Je länger jemand in Österreich lebt, desto wahrscheinlicher ist die Familiensprache Deutsch und desto wahrscheinlicher ist es auch, dass innerhalb des Freundeskreises Deutsch gesprochen wird.
Männer mit Migrationshintergrund geben jedoch signifikant häufiger an, keine Freunde zu haben und selbst wenn diese vorhanden sind, sich von ihnen meist nicht unterstützt zu fühlen. Wie jedoch aus hauseigenen Untersuchungen4 hervorgeht, stellt das Eingebundensein in ein soziales Netzwerk einen bedeutenden Prädiktor für die Aufrechterhaltung der Abstinenz dar.
Ein weiterer zentraler Aspekt in unserer Untersuchung galt der Inanspruchnahme des angebotenen therapeutischen Programms. Hier zeigt sich generell die Tendenz der Patienten mit Migrationshintergrund verstärkt jene Angebote in Anspruch zu nehmen, welche keine komplexen Kenntnisse der deutschen Sprache benötigen. Das sind vor allem kreative Angebote im Bereich der Werkstätte, aber auch Fortbildungsangebote im Lernzentrum zum Erwerb von Basisfertigkeiten am PC sowie Sprachkurse.
Orpheus meets Xenia: Das Orpheusprogramm des Anton-Proksch-Instituts umfasst vor allem jene ressourcenorientierten Angebote, die auf die sinn- und freudvollen Lebens(neu-)gestaltung unserer Patienten abzielen. Theoretischer Hintergrund ist dabei die Überlegung, dass der Verzicht auf ein Suchtmittel umso leichter fällt, je bedeutender andere Aktivitäten im Leben werden.
Wir sind daher auch der Frage nachgegangen, in welcher Weise gerade Patienten mit Migrationshintergrund von diesen Therapieangeboten profitieren können. Zu Beginn der stationären Therapie weisen zwar viele Personen mit Migrationshintergrund leicht reduzierte Selbstmanagementfähigkeiten und verminderte gesundheitsrelevante Ressourcen auf (Coping, Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Selbstverbalisationsfähigkeit …), jedoch profitieren genau diese Patienten besonders stark von Angeboten wie beispielsweise Musik- und Chorprojekt, Kinotherapie und weiteren ressourcenorientierten Interventionen.
1 Statistik Austria, 2007, www.statistik.at
2 United Nations Economic Commission for Europe
3 Hegemann T, Ramazan S (Hg.), Handbuch Transkulturelle Psychiatrie. Psychiatrie Verlag, Bonn: 2010
4 Scheibenbogen O, Stichtagserhebung am Anton-Proksch-Institut Wien. Unveröffentlichte Forschungsarbeit 2009