Antimuskarinika, entweder als Monotherapie oder häufiger, in Kombination mit intermittierendem (Selbst-)Katheterismus gelten bei NDÜ als Therapie der ersten Wahl (Guidelines der EAU, Pannek et al., 2011). Das Therapieziel von Antimuskarinika bei NDÜ unterscheidet sich deutlich von dem bei idiopathischen Detrusorüberaktivität (IDÜ)/ überaktiver Blase (ÜAB): Bei der NDÜ sind es unphysiologisch hohe Detrusordrucke in der Füllungs- und/oder Entleerungsphase, die abgesenkt bzw. normalisiert werden müssen, während bei der IDÜ in erster Linie die Symptome imperativer Drang, mit oder ohne Dranginkontinenz, beeinflusst werden sollen. Dementsprechend ist auch das Design der Antimuskarinika-Studien bei NDÜ anders als bei IDÜ/OAB. Veränderungen der urodynamischen Parameter wie Detrusordruck und Compliance sind für den Therapieerfolg entscheidend. Deshalb sind auch urodynamische Untersuchungen vor und unter Medikation zur Beurteilung der Effizienz bei NDÜ unerlässlich.
Unter den heute verwendeten Antimuskarinika fanden sich Studien mit Darifenacin (1), Oxybutynin (9, überwiegend als Referenzsubstanz), Propiverin IR und ER (5), Solifenacin (1) Tolterodin IR und ER (7) und Trospiumchlorid (5). Eine Studie mit Solifenacin ist zurzeit noch im Gange. Fesoterodin wurde bei NDÜ bisher nicht geprüft. Bei der überwiegenden Zahl der Probanden handelt es sich um solche mit spinaler neurogener Detrusorüberaktivität.
In placebo- und aktiv kontrollierten Studien zeigte sich eine Absenkung des maximalen Detrusordrucks bei Miktion um etwa 30–40 %, parallel dazu fand sich eine Zunahme der maximalen zystometrischen Blasenkapazität um ebenfalls 30–40 %. Die Wirksamkeit von Oxybutynin IR, Trospiumchlorid IR, Propiverin IR und Propiverin ER war in etwa vergleichbar. je höher die Ausgangsdrucke des Detrusors bzw. je geringer die zystometrische Blasenkapazität vor Beginn der Studie war, umso ausgeprägter war die Veränderung der urodynamischen Parameter. Die veröffentlichten Studienergebnisse lassen keine Aussagen zu Veränderungen der Blasencompliance sowie über den Einfluss auf eine prolongierte Kontraktionsdauer des Detrusors durch Antimuskarinika zu. Eine flexible Dosierung bzw. eine Dosierung durch den Patienten selbst zeigte, dass die so ermittelten Dosen durchwegs deutlich höher waren als die empfohlenen. Bei Oxybutynin ER wird über eine Dosierung bis zu 15 mg/Tag, bei Tolterodin ER von 8–12 mg/Tag berichtet. Bei 80 % der Probanden, die auf eine Monotherapie auch mit Dosiseskalierung nicht ansprachen, war die Kombination von zwei verschiedenen Antimuskarinika noch wirksam, allerdings um den Preis einer erhöhten Drop-out-Rate von 25 %. In den Studien wird zwar über eine Verringerung der Inkontinenzepisoden berichtet, Aussagen über das Erreichen von Kontinenz, z. B. zwischen den intermittierenden Katheterisierungen, fehlen, ebenso wie Angaben zum oberen Harntrakt, nicht zuletzt auch deshalb, weil es sich – von zwei Langzeitstudien abgesehen – um Kurzzeitstudien mit einer Dauer von 2–6 Wochen handelte.
So wie bei Studien mit IDÜ/ÜAB war auch bei NDÜ Mundtrockenheit die am häufigsten angegebene Nebenwirkung, wobei, wie „Head to head“-Studien zeigten, Oxybutynin IR deutlich häufiger und schwerere Mundtrockenheit verursachte als Propiverin oder Trospiumchlorid. Höhere Dosierungen mit Anticholinergika waren nicht mit einer höheren Rate an Nebenwirkungen verbunden. In einer der zwei Langzeitstudien (Propiverin) wird von 13 % über Nebenwirkungen mit Tendenz zu einer verbesserten Verträglichkeit bis Ende des ersten Jahres der Einnahme.
Level of Evidence: Bei der überwiegenden Zahl der Studien beträgt der Level of Evidence 1b.
Behandlungsziel bei NDÜ ist die Erhaltung der Nierenfunktion und die Beherrschung der Harninkontinenz bzw., wenn möglich, die Wiederherstellung der Kontinenz durch eine Niederdrucksituation in der Harnblase mit adäquater Blasenkapazität und regelmäßiger Blasenentleerung ohne oder mit tolerablem Restharn.
Detrusordruck: Ein pathologisch erhöhter maximaler Detrusordruck wurde im Allgemeinen durch die Antimuskarinika auf Werte um 40 cm H2O, vereinzelt (durch Propiverin) auch auf Werte darunter, abgesenkt. Neben dem maximalen Detrusordruck gilt bei der neurogenen Blasenentleerungsstörung auch eine prolongierte Detrusorkontraktion als Risikofaktor für Schäden am oberen Harntrakt. Dieser Wert wurde allerdings bei keiner der Studien evaluiert. Auch der Einfluss der Antimuskarinika auf die Blasen-Compliance ist in den Studien nicht ausreichend dokumentiert und somit eine diesbezügliche Aussage nicht möglich. Über Veränderungen der Lebensqualität (QoL) wird nicht berichtet, wohl deshalb, weil ein Großteil der Studien zu einer Zeit durchgeführt wurde, in der Lebensqualität noch nicht den heutigen Stellenwert hatte.
Restharn: Im Gegensatz zu den Studien bei IDÜ/ÜAB kommt es bei der NDÜ unter Antimuskarinika zu einem signifikanten Anstieg des Restharns, der sich positiv auf die klinische Situation von Patienten mit intermittierenden (Selbst-)Katheterismus auswirkt: Anstieg des Restharns bedeutet Detrusorrelaxation und damit die Chance, zwischen den Katheterisierungen kontinent zu werden. Zwei Gründe sind wohl für den Anstieg des Restharns bei NDÜ verantwortlich: zum einen die durch die Antimuskarinika induzierte Detrusorschwäche, zum anderen die bei spinalen Läsionen weiter bestehende Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, die allerdings in keiner der Studien, etwa entsprechend dem Schema von Blaivas et al. (1981), klassifiziert wurde. Der kombinierte Effekt einer Absenkung des Detrusordrucks in Verbindung mit einer Zunahme der Blasenkapazität sollte zu einer Verbesserung der Inkontinenz führen. In drei Studien wird über eine Reduktion der Inkontinenzepisoden berichtet, in keiner der Studien aber darüber, ob und inwieweit durch die Gabe des Antimuskarinikums bei Patienten, die sich selbst katheterisieren, dadurch Kontinenz zwischen den Katheterisierungen erreicht werden konnte. Bei der Anwendung von Botulinum Toxin A wird über eine Abnahme der Harnwegsinfektionen infolge Detrusorrelaxation berichtet, in den Studien mit Antimuskarinika wird dieser Aspekt nicht erörtert.
Die Berichte über Nebenwirkungen schwanken erheblich, z. B. bei Mundtrockenheit zwischen 17 % und 67 %. Die Rate der Mundtrockenheit hängt einmal vom Antimuskarinikum selbst ab, bei unterschiedlichen Nebenwirkungsraten in Studien mit demselben Antimuskarinikum hängt sie wohl auch von der Evaluierungsmethode ab, insbesondere ob gezielt nach derartigen Nebenwirkungen gefragt oder die spontanen Angaben der Probanden verwertet wurden. Alle Studien bescheinigen, dass Oxybutynin IR eine deutlich höhere Nebenwirkungsrate hat als Propiverin IR und Trospiumchlorid IR. Dies deckt sich auch mit der Beurteilung in Reviews von Antimuskarinika bei IDÜ/ÜAB. Höhere Dosierungen führten zu keiner Verstärkung der Nebenwirkungs- bzw. Drop-out-Rate, möglicherweise weil das Durchschnittsalter der Probanden niedriger war als bei Studien mit IDÜ/ÜAB und die Einnahme z.B. für das Erhalten von erreichter Kontinenz unerlässlich ist.
Die getroffenen Aussagen beziehen sich in erster Linie auf Patienten mit spinaler NDÜ, korrelierende Angaben zur suprapontinen Detrusorüberaktivität sind aufgrund der vorliegenden Daten nicht möglich. Ein wesentliches Manko ist die Tatsache, dass lediglich zwei Langzeitstudien vorliegen, obwohl viele der Betroffenen Antimuskarinika lebenslang einnehmen müssen.
Bei der Planung künftiger Studien zur Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Antimuskarinika bei NDÜ sollte auf die angesprochenen Defizite Rücksicht genommen werden. Was die urodynamischen Parameter betrifft, sollte die Dauer der Detrusorkontraktion und die Compliance, was die klinischen Parameter anlangt, die Auswirkung auf den oberen Harntrakt, das Erlangen von Kontinenz, die Lebensqualität und die Langzeitverträglichkeit mitberücksichtigt werden. Studien sollten sich auch mit den Wirkungen von Antimuskarinika bei suprapontiner Detrusorüberaktivität auseinandersetzen, zumal bei diesem Krankengut zwar die Verhaltenstherapie an erster Stelle steht, aber Antimuskarinika, vor allem bei verringerter Blasenkapazität, durchaus einen Stellenwert haben.
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