Interview

Spectrum Onkologie: Was waren die Anlässe zur Reformierung der EU-Studiendirektive?
Univ.-Prof. Dr. Günther Gastl: Die „EU-Richtlinie 2001“ wurde in Österreich im Jahr 2005 in die 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes implementiert, d. h., sie wurde sozusagen in nationales Recht umgesetzt und hatte damals zum Ziel, „Good Clinical Practice“-Standards für klinische Studien flächendeckend einzuführen. In der Zwischenzeit wurden Schwachstellen evident, vor allem ein zu hoher bürokratischer Aufwand verbunden mit zu hohen Kosten. Der Grund liegt vor allem darin, dass die EU zum damaligen Zeitpunkt industriegesponserte Studien, insbesondere Zulassungsstudien als Mess­latte herangezogen hatte, also den höchsten Level, den man überhaupt anlegen kann. Im Weiteren hat das dazu geführt, dass nicht industriell gesponserte Studien, so genannte IIT, „Investigator Initiated Trials“ bzw. akademische Studien, signifikant zurückgegangen sind. Wir haben derzeit in Gesamteuropa ein Verhältnis 40 : 60, was IIT und industriegesponserte Studien betrifft. In Österreich liegen keine genauen Zahlen vor, das Verhältnis dürfte aber etwa 15 : 85 betragen.
„Investigator Initiated Trials“ liest man auch bei industriegesponserten Stu­dien …

Auch das ist ein Punkt. Es gibt für diese Studien ja keine oder höchstens minimale öffentliche Fördergelder. Vom Wissenschaftsfonds FWF z. B. 4 Millionen Euro pro Jahr, ein Tropfen auf dem heißen Stein. Das heißt, realiter kommen die Gelder zumindest indirekt von der Industrie. Die gesetzlichen Sponsorverpflichtungen liegen jedoch bei den Wissenschaftern, bei Studiennetzwerken oder wie etwa in Innsbruck bei den Universitäten.
Ein weiteres Problem der 2001-Direktive war die Durchführung großer multinationaler Studien. Die unterschiedliche Rechtslage in den einzelnen Ländern hat es IIT noch einmal erschwert, sich diesen anzupassen, etwa was die Frage der Ethikkommissionen betrifft. Allein wenn in Österreich in jedem Bundesland ein Studienteilnehmer aktiv ist, müssen 9 Ethikkommissionen befasst werden. Umgelegt auf multinationale Studien vervielfacht sich diese Zahl enorm (auf 1.900 Ethikkommissionen, die mit der Begutachtung klinischer Studien betraut sind, Anm.) und ist in Wahrheit nicht mehr bewältigbar. Dazu muss man wissen, dass europaweit 25 % aller Studien multizentrisch sind und in diesen großen randomisierten Studien zwei Drittel der Patienten behandelt werden, also die große Mehrzahl. Wenn solche Studien für IIT nicht mehr in Frage kommen, ist das ein Problem, das auf europäischer Ebene erkannt wurde und mit der neuen Direktive bereinigt werden soll.

Weniger Bürokratie, weniger Kosten, was wäre das zum Beispiel?

EU-weit soll für den gesamten Genehmigungsprozess multizentrischer Studien ein Portal eingerichtet werden. Die Einreichung einer solchen Studie wird nicht mehr kostenpflichtig sein und der Antrag zügig innerhalb einer bestimmten Frist bearbeitet werden. Wenn z. B. eine Frist von 4 Wochen abgelaufen ist, ohne dass ein Land Einwände erhebt, ist die Studie genehmigt – das gilt für industriegesponserte und akademische Studien und wird als „stillschweigende Genehmigung“ bezeichnet. Der zweite Punkt ist, dass für jede multizentrische Studie in Europa ein Land die berichterstattende Führungsrolle übernehmen wird. Natürlich müssen alle Studien wie bisher registriert werden, wofür eine zentrale EU-Registrierungsstelle geschaffen wird. Die Kosten werden sich reduzieren, weil der Dokumentationsaufwand für klinische Studien geringer wird und vor allem vom Risiko abhängig gemacht werden soll. So ist es durchaus denkbar, dass nur mehr Grad-3/4-Nebenwirkungen erfasst werden, weil Nebenwirkungen geringeren Grades keine Sicherheitsbedenken hervorrufen. Der Sicherheitsaspekt hat auch folgende Implikation: Wenn etwa ein bereits zugelassenes Medikament weiter untersucht wird, z. B. im Rahmen einer Therapieoptimierungsstudie in derselben Indikation, möglicherweise auch in einer anderen Indikation, dann wird auch keine Patientenversicherung mehr notwendig sein. Es sollen die bereits bestehenden Versicherungen zur Geltung kommen – z. B. die Arztversicherung oder jene des Krankenanstaltsträgers oder die Produkthaftungsversicherung eines pharmazeutischen Konzerns –, ohne dass immer neue Versicherungspflichten fällig werden, zumal deren Kosten auch nicht wirklich in Relation zum gegebenen Risiko stehen, wenn eine Substanz bereits die Sicherheitsauflagen des Zulassungsprozesses erfüllt hat. Es gab in Österreich in den letzten 10 Jahren mit Ausnahme von vielleicht 2 Fällen überhaupt kein Rechtsverfahren, in dem Studienpatienten die Versicherung beansprucht hätten.* Allerdings kann man aus Deutschland bereits Widerstand von den Versicherungen vernehmen. Summa summarum rechnet die EU, dass sie mit diesen Maßnahmen die Verwaltungskosten für klinische Studien um 800 Millionen Euro jährlich reduzieren kann.

Eine Forderung besteht auch in der Beteiligung der öffentlichen Hand an klinischen Studien.

Es gibt derzeit unterschiedliche Modelle, etwa in Deutschland, wo die AOK-Versicherung Studien unterstützt, wenn es z. B. um Versorgungsfragen geht, also Therapieoptimierungsstudien. In Italien zahlt die Industrie 3 % ihres Werbeetats in einen gemeinsamen Topf, aus dem sich akademische Studien finanzieren. Verschiedene Sponsoren sind natürlich ebenfalls vorstellbar. In Deutschland etwa werden Studien auch gemeinsam vom Bundesministerium, der Deutschen Krebshilfe und durch Stiftungen finanziert. In Österreich gibt es keine großen Stiftungen, die sich des Themas annehmen würden, und die Finanzierung aus Bundesmitteln ist verschwindend gering.

* Das deutsche KKS-Netzwerk (Koordinierungszentren für klinische Studien) berichtet in einem Zeitraum von 10 Jahren (1997–2007) von drei Versicherungsfällen in klinischen Studien, an denen über 20.000 Patienten beteiligt waren. Die jährlichen Versicherungskosten pro Patient reichen in den einzelnen EU-Ländern von 14,50 Euro in Belgien bis zu 75 Euro in Deutschland oder Frankreich. Im Jahr 2010 haben insgesamt knapp 397.000 Patienten an klinischen Studien in der EU teilgenommen.