Geleit 1/2013: 175 Jahre Gesellschaft der Ärzte in Wien

Anfänglich traf sich eine kleine Gruppe von Ärzten, entgegen dem restriktiven Zeitgeist der Vormärzperiode, in Privatwohnungen zum medizinischen Gedankenaustausch. Daraus konstituierte sich am 22. Dezember 1837 der bis heute existierende – nur während der politischen Wirren zwischen 1938 und 1945 bewusst sistierte – Verein.1

Diskussion

Ein Meilenstein in der Geschichte unserer Gesellschaft war der Auftritt von Ignaz Semmelweis im Jahr 1850. In den historischen Abhandlungen wird erwähnt, dass er nicht allein gelassen wurde, sondern massive Unterstützung durch Carl Rokitansky und Friedrich ­Hebra erhielt. Viel später hat der amerikanische Autor R. A. Wilson den Begriff „Semmelweis-Reflex“ geprägt und meinte damit die reflexartige Ablehnung einer neuen Information oder wissenschaftlichen Entdeckung durch eine davon überraschte Gruppe bzw. Community.2 Bemerkenswert ist auch, dass die Ablehnung vor allem durch Johann Klein, damaliger Professor für praktische Geburtshilfe, zwar mit unfairen Methoden erfolgte, aber mehr war als nur Uneinsichtigkeit. In einer Zeit des enormen Umbruchs neuen wissenschaftlichen Denkens war die Erbringung eines Beweises unabdingbar für Forschungstätigkeit (und in diesem Fall wegen des noch fehlenden Wissens um die Existenz von Bakterien nicht möglich). Semmelweis hatte eine empirische Studie durchgeführt, ein damals noch nicht in der Forschung akzeptiertes Vorgehen. Ähnlicher Kritik war übrigens Christian Doppler ausgesetzt wegen der nicht als ausreichend angesehenen mathematischen Beweisführung seines Doppler-Effekts.3
Legendär ist auch die ausführlich in der „Wiener Klinischen Wochenschrift“ wiedergegebene fachliche Diskussion zwischen Friedrich Schauta und Ernst Wertheim „Über die Sinnhaftigkeit der Lymphknotenentfernung beim Gebärmutterhalskrebs“, die in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts stattfand.

Die Errichtung des Billrothhauses im Jahr 1893 führte die Gesellschaft zu ihrer Hochblüte, wiederum war eine der Überlegungen, freies wissenschaftliches Denken zu fördern. So war es damals Brauch, dass die Vortragenden ihre Fallvorstellungen unter Anwesenheit der Patienten, als Zeugen, präsentierten. Zu dieser Zeit beeinflussten Ärzte auch bewusst gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Entwicklungen. Eric Kandel beschreibt in seinem Buch „Das Zeitalter der Erkenntnis“, wie sich der Anatom Emil Zuckerkandl vom Künstler Gustav Klimt in den Seziersaal begleiten ließ. Im Wien der Jahrhundertwende gab es regen Austausch zwischen Künstlern, Wissenschaftlern, Ärzten, Journalisten und anderen Gruppen.4 Seit einigen Jahren – Sepp Leodolter hat dies sehr gefördert – öffnet sich die Gesellschaft der Ärzte wieder der Welt der Kunst durch Musik- oder Filmabende und durch die Einladung namhafter Nichtmediziner als Vortragende. Zahlreiche Vorträge über Fortschritte in Gynäkologie und Geburtshilfe fanden statt. Namentlich erwähnt seien Karl Braun und Josef Späth. In letzter Zeit waren Peter Husslein, Johannes Huber und Engelbert Hanzal besonders aktiv.
Eine Höhepunkt war der Festvortrag von Professor Hermann Hepp, Direktor der Univ.-Frauenklinik München und Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, anlässlich der Jahreshauptversammlung 2003 mit dem Titel „Wissenschaft, Recht und Gewissen aus der Sicht eines Frauenarztes“.

Publikation

Offene Diskussionen und Öffnung einer interdisziplinären medizinischen Gesellschaft bedeutet heute, Kooperationen mit verschiedenen Fächern, Standesvertretungen und anderen Gruppierungen einzugehen unter Nutzung der jeweils modernsten Medien. Mit www.billrothhaus.tv wird die Gesellschaft der Ärzte in Wien nun auch den Ansprüchen der Nutzer mobiler elektronischer Endgeräte gerecht.

Bibliothek

Traditionell ist die Gesellschaft der Ärzte in Wien bemüht, ihre Infrastruktur für Wissensmanagement in den Dienst einer patientenzentrierten Medizin zu stellen. Aus einem anfänglichen Lesekabinett ist später im Billrothhaus die heute größte medizinische Privatbibliothek Europas entstanden.
Mit dem EU-Projekt KHRESMOI betreibt die Gesellschaft auch selbst aktiv Forschung auf dem Gebiet des kreativen Wissensmanagements (Knowledge Helper for Medical and Other Information Users; von griech. „chresmoi“, d. h. Orakel). Ziel ist der Aufbau einer mehrsprachigen, multimodalen Suchmaschine für medizinische Laien und Ärzte. Aus Wien sind neben der Gesellschaft der Ärzte das CIR-Lab der Univ.-Klinik für Radiodiagnostik und die Information Retrieval Facility (IRF) vertreten. Das Beherrschen von „big data“ soll damit auch in der Medizin Eingang finden und aus unseren bisherigen Untersuchungen können wir ableiten: Die Entwicklung derartiger Instrumente ist enorm aufwändig, aber eine Bibliothek wird in den nächsten Jahren damit konfrontiert sein, dass durch mobile Endgeräte die Desktop-PCs ablöst werden, dass automatische selbstlernende Analyseprogramme die ärztliche Tätigkeit – vor allem die Intuition – zunehmend unterstützen werden und dass das computergestützte Lernen bzw. Entscheiden im Team an Bedeutung gewinnen wird.

Konklusion

Für eine offene Diskussion unverzichtbar ist das Streben, einem Qualitätsanspruch und den Regeln professionellen ärztlichen Handelns gerecht zu werden. In der digitalen Welt betrifft dies zwei große Herausforderungen: die differenzierte Betrachtung kommerzieller Interessen und den Schutz der Privatsphäre. Dieses neue Verständnis, wie Kommunikation zwischen Ärztinnen und Ärzten, anderen Gesundheitsberufen und multimedial vorinformierten Patienten funktionieren soll, ist die reale Antwort der Gesellschaft der Ärzte in einer Zeit der „Googleisation“ des Wissens.
Gynäkologen haben maßgeblich zum Erfolg beigetragen. Neben Tassilo Antoine und Sepp Leodolter als Ehrenpräsidenten ist vor allem Isidor Fischer Tribut zu zollen. Neben anderen medizinhistorischen Büchern verfasste er kurz vor seiner Emigration nach England die „Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien 1837 bis 1937“ und trug damit wesentlich zur Prägung des Begriffs der II. Wiener Medizinischen Schule bei.

1 Tragl K.-H.: Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien seit 1838. Böhlau-Verlag, Wien 2011
2 www.whonamedit.com – Biographical dictionary of medical eponyms
3 Kainberger F., Leodolter S.: Christian Doppler and the influence of his work on modern medicine. Wien Klin Wochenschr 2004; 116:107-109
4 Kandel E.: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. Siedler Verlag, München 2012