Ultraschall in der Schwangerschaft wurde in Österreich ab den späten 1960er-Jahren an einigen wenigen Zentren mit ersten, zum Teil selbst mitentwickelten Geräte-Prototypen durchgeführt. Mitte der 1980er-Jahre hatten bereits über 90 % der Schwangeren mindestens einen Ultraschall in der Schwangerschaft, so dass es nur konsequent war, dass im Jahr 1988 zwei Ultraschalluntersuchungen in der Schwangerschaft in den Mutter-Kind-Pass aufgenommen wurden.
Welchem Zweck die Ultraschalluntersuchung genau dienen sollte, wurde damals nicht näher definiert. Die Proponenten der Untersuchung waren bemüht, sie mit positiven Bildern von gesunden Kindern und Erfolgen der Pränatalmedizin zu assoziieren. Die werdenden Eltern, Omas, Opas und designierte TaufpatInnen wollten ohne Zusatzkosten „Baby schau’n“ und interessierten sich in erster Linie für die Geschlechtsdiagnostik. Diese Unschärfe in der Festlegung des Zwecks der Untersuchung war zwar verständlich, erwies sich aber später als großer Fehler – man hatte nämlich damit diese Festlegung den Gerichten überlassen:
Die pränatale Diagnostik dient im gegebenen Kontext regelmäßig zur Ermittlung von Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des ungeborenen Kindes. Der Zweck der Pränataldiagnostik in der Schwangerenbetreuung muss dann aber zumindest auch darin gesehen werden, der Mutter (den Eltern) im Falle, dass dabei drohende schwerwiegende Behinderungen des Kindes erkannt werden, die sachgerechte Entscheidung über einen gesetzlich zulässigen, auf § 97 Abs. 1 Z 2 zweiter Fall StGB beruhenden Schwangerschaftsabbruch zu ermöglichen. Dass in einem solchen Fall die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch auch wegen der erheblichen finanziellen Aufwendungen für ein behindertes Kind erfolgen kann, ist objektiv durchaus voraussehbar, sodass unter diesen Umständen auch die finanziellen Interessen der Mutter (der Eltern) noch vom Schutzzwecke des ärztlichen Behandlungsvertrages umfasst sind. 5OB 148/07
So lautet der Originaltext des „Klagenfurter Urteils“ des OGH vom Februar 2008. Es war das dritte Urteil in einer Serie von bisher 4 „Wrongful life“-Urteilen, die das Höchstgericht seit 1999 gefällt hat.
Urteil Nr. 1 – das „Wiener Urteil“ (1999): Ein Gynäkologe, der in seiner Privatordination Schwangere betreute, schickte diese, da er selbst kein Ultraschallgerät besaß, 1987 routinemäßig zu Ultraschalluntersuchungen an die nächstgelegene Universitätsklinik. Zu Jahresbeginn 1988 kam es bei einer der von diesem Gynäkologen betreuten Frauen zur Geburt eines schwer behinderten Kindes: dem Kind fehlten beide Arme, weiters lagen Fehlbildungen und Fehlstellungen der unteren Extremität vor. Diese Fehlbildungen waren bei 4 Ultraschalluntersuchungen an der Uniklinik nicht erkannt worden. Die Eltern klagten – die beklagten Parteien wendeten ein, dass es 1987 nirgendwo Standards und Leitlinien für die Ultraschalldiagnostik von Knochenfehlbildungen gab. Seltene Knochenfehlbildungen waren weder mit den damals zur Verfügung stehenden Ultraschallgeräten noch mit den Möglichkeiten, ärztliche MitarbeiterInnen in der Fehlbildungsdiagnostik zu schulen, pränatal verlässlich zu erkennen.
Es fand sich ein deutscher Gutachter, der überzeugend darlegen konnte, dass er die Fehlbildung selbst natürlich erkannt hätte, und die Eltern bekamen vom Höchstgericht Recht. Die Urteilsbegründung war sehr explizit: Ein Arzt, der an der werdenden Mutter Ultraschalluntersuchungen vornimmt, muß davon ausgehen, daß die Mutter dadurch eine Entscheidungshilfe für oder gegen das Kind (Hervorhebung von mir) sucht und gerade auch deshalb Aufklärung über den körperlichen Zustand des Kindes erlangen will. Der Arzt, der die mögliche Aufklärung unterläßt, verstößt gegen seine Vertragspflicht: „das Fehlverhalten des Arztes liegt in einer Verletzung seiner vertraglichen Pflichten gegenüber den Eltern“ … Den Arzt trifft die Verpflichtung, sich durch ständige Fort- und Weiterbildung Kenntnisse über den jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaften zu verschaffen und sich nicht einfach auf die Kenntnisse der lokalen Übung oder die subjektive Überzeugung der an einem Krankenhaus tätigen Mediziner zu beschränken. Dies gilt gerade für Ärzte einer Universitätsklinik, die sich auch an Spitzenstandards in Nachbarländern zu orientieren haben. OGH 1 Ob 91/99 k
Dieses Urteil hatte sowohl in der medialen Öffentlichkeit, als auch bei den Ärzten erstaunlich wenig Resonanz.
Urteil Nr. 2 – das „Salzburger Urteil“ (2006): Dieser Fall betraf eine schwangere Akademikerin, die 1997 in Betreuung bei einem niedergelassenen Gynäkologen war. Zu dieser Zeit gab es noch kein NT-Screening auf Trisomien. Der Gynäkologe bemerkte jenseits der 20. SSW im Ultraschall Auffälligkeiten (zu viel Fruchtwasser bei schmalem fetalen Thorax), die er sich nicht erklären konnte und er wies die Patientin an die Risikoambulanz der Landes-Frauenklinik zu. Die Patientin ging nicht hin, auch nach einer weiteren Kontrolle beim Gynäkologen folgte sie der Zuweisung nicht. Erst in der 34. SSW erschien sie an der Frauenklinik. Dort wurde im Ultraschall ein komplexer Herzfehler, eine Obstruktion des Darmes und bei der Chromosomenanalyse eine Trisomie 21 festgestellt. Nach der Geburt des Kindes klagten die Eltern den Gynäkologen, die Klage wurde beim Landesgericht und beim Oberlandesgericht abgewiesen, beim Obersten Gerichtshof bekamen sie Recht. Zusammengefasst lautete die Begründung, der Arzt habe sie bei der Zuweisung zur Risikoambulanz zu wenig nachdrücklich auf die möglichen Gefahren einer Behinderung des Kindes hingewiesen. OGH 5 Ob 165/05h
Der Fall löste ein mediales Erdbeben aus – obwohl sich das Urteil nur wenig von dem oben angeführten Urteil 1999 unterschied. Eine Welle der Solidarisierung mit dem betroffenen Kollegen ging durch die Ärzteschaft, es gab zornige Presserklärungen von Ärztevertretern in Landesärztekammern und auf Bundesebene, zahlreiche Editorials, Kommentare und Leserbriefe in Publikumszeitungen und Ärztejournalen.
Urteil Nr. 3 – das „Klagenfurter Urteil“ (2008): Eine 36-jährige Schwangere wurde in der 20. SSW an die Ambulanz eines Landeskrankenhauses zum Organscreening geschickt. Die Untersuchung fand an einem jener Ultraschallgeräte statt, die eine Medizingerätefirma, die dem Krankenhaus neue Geräte verkaufen wollte, an diesem Tag an der Klinik „zur Ansicht“ aufgestellt hatte. Schädel, Gehirn, Wirbelsäule des Kindes wurden als sonografisch unauffällig dokumentiert. Im Befund wurde auch vermerkt, dass nicht alle Organe einwandfrei gesehen worden waren. Bei mehreren Ultraschalluntersuchungen bei der niedergelassenen Gynäkologin, die bis zum Geburtstermin stattfanden, fiel ebenfalls nichts auf.
Nach der Geburt war sehr rasch klar, dass das Kind eine Meningo-Myelocele mit Hydrocephalus hatte. Die Eltern klagten und bekamen vom OGH Recht.
In der Urteilsbegründung finden sich einige globale Passagen, dann aber auch ungewöhnlich detailreiche explizite Forderungen und unmissverständliche Normvorgaben, wie das tägliche Management in einer Schwangerenambulanz eines Spitals abzulaufen habe und auch wie genau der zuweisende Facharzt die Arztbriefe zu lesen hab:
Mit diesen Vorgaben zum Mikromanagement der einzelnen Patientin betrat der OGH arztrechtliches Neuland und dehnte u. a. die Qualifikation eines einzigen Mitarbeiters explizit auf die gesamte Abteilung aus. Nimmt man an, ein Richter an einem Bezirksgericht hat ein Zusatzdiplom im Europarecht, müssten nach der Logik des OGH alle Richter dieses Bezirksgerichtes – sozusagen im Weg der Kontamination – dieselbe europarechtliche Qualifikation vorweisen, auch jene, die keine Zeit hatten, die entsprechende Zusatzqualifikation zu erwerben.
Auch die Forderungen, Niedergelassene müssten Patientinnen immer wieder neu ins Spital zuweisen, bis alle Checklisten abgearbeitet sind, stellt in dieser Form eine vom ASVG nicht vorgesehen, neue Rechtsnorm dar.
Urteil Nr. 4 – das „Innsbrucker Urteil“ (2012): Ein niedergelassener Facharzt betreute die nunmehr dritte Schwangerschaft einer langjährigen Patientin. Er klärte über die Methoden der Pränataldiagnostik auf – Amniozentese, CVS und Ultraschall – und gab ihr ein Merkblatt mit. Die Patientin hatte Angst vor einer Fehlgeburt durch invasive Methoden und wollte „nur“ die Nackenfaltenmessung. Nach einer als normal befundeten Nackenfaltenmessung lehnte sie auch den von dem Arzt angebotenen Organschall in der 20. SSW ab. Es kam zur Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom. Die Mutter des Kindes klagte und erklärte, dass für sie von Beginn der Schwangerschaft an klar gewesen sei, dass sie das Kind nur bekommen wollte, wenn es gesund sei. Auch stellte sie fest, dass sie den Arzt so verstanden habe, dass die NT-Messung nicht eine Risikoermittlung sei, sondern eine Möglichkeit sei, ein Down-Syndrom definitiv auszuschließen. Landesgericht als erste Instanz, Oberlandesgericht und OGH als Berufungsinstanzen schlossen sich vollinhaltlich dem Standpunkt der Klägerin an. Der OGH führte in seinen Begründungen aus:
Konsequenzen für den Schwangeren-Ultraschall: Mit Übernahme des Ideengebäudes und des Instrumentariums des Pränatalscreenings ist der Arzt in den Augen der Gerichte – und in zunehmendem Maße der Öffentlichkeit – zum Wächter geworden, der persönlich verantwortlich ist, dass nur perfekte Wunsch-Kinder zur Geburt kommen. Infolge des „Salzburger Urteils“ und des „Innsbrucker Urteils“ haben sich viele Ärzte daran gewöhnt, vom ersten positiven Schwangerschaftstest an gezielte „Horror-Aufklärung“ bei ihren Patientinnen zu betreiben und alle theoretisch möglichen kindlichen Fehlbildungen im schaurigen Detail zu schildern, um nicht später wegen „mangelndem Nachdrucks“ oder „tendenziös und suggestiver Aufklärung“ haftbar gemacht zu werden.
Der Ultraschall, der lange Zeit eines der netten Highlights einer jeden Schwangerschaft war, ist dabei zum irritanten Pflichtscreening zu verkommen, ähnlich den Sicherheitskontrollen an Flughäfen. Nachdem es der Gesundheitspolitik nicht gelungen ist, Normen und Standards für die pränatalen Untersuchungen festzulegen, tun dies nun die Gerichte.