Österreichs Gesundheitssystem verändert sich. Die bestimmenden Faktoren: die Gesundheitsreform mit der angestrebten Verlagerung speziell von Ambulanzleistungen und die neuen Spitalsärzte-Dienstzeiten, die automatisch zu einem Kapazitätsverlust von rund 20% an Ärzte-Personalressourcen führen. Österreichs Kassenärzte sehen bereits seit einiger Zeit – auch durch Probleme bei der Nachbesetzung von Kassenstellen – mehr Patienten. Der Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Niedergelassenen-Bundeskurienobmann Dr. Johannes Steinhart hat angemerkt, dass finanziell besser gestellte Patienten in den Wahlarztbereich abwandern. „Was ist da dran?“, fragte die Ärzte Krone.
„Ich sehe sehr wahrscheinlich jetzt mehr Patienten. Die Ordination ist jeden Tag voll. Jetzt kann es schon 14 Tage dauern, bis jemand drankommt“, berichtete Dr. Martin Millauer, Internist und Wahlarzt in Stainz in der Steiermark.
Die Gründe für die Entwicklung sieht Millauer vor allem in der Einschränkung ambulanter Leistungen in den Krankenhäusern. „Es gibt Leistungen, die wollen die nicht mehr durchführen. Dazu gehören der Herz-Ultraschall, die Ergometrie und Gastro- und Koloskopien etc.“ Die Abklärung der Operationstauglichkeit eines Patienten gehöre genauso dazu. Millauer: „Im Spital haben sie außerdem den Druck, die Patienten möglichst schnell nach draußen zu bringen.“
Unbestritten: Der Wahlarztbereich hat sich bereits in den vergangenen Jahren deutlich ausgeweitet. 2000 wurden noch 8.491 Kassenvertragsärzte gezählt. 2012 waren es nur noch 7.602, im Jahr darauf 7.657. Demgegenüber hatte es mit August 2001 (ohne Zahnärzte) 5.263 Wahlärzte gegeben (1.626 Allgemeinmediziner, 3.637 Fachärzte). Im August 2014 waren es 9.096 Wahlärzte (ohne Zahnärzte), davon 2.398 Allgemeinmediziner und 6.698 Fachärzte.
Dr. Christoph Reisner, Präsident der Niederösterreichischen (NÖ) Ärztekammer und Wahlarztreferent der Wiener Ärztekammer, sieht derzeit keine generelle plötzliche Mehrbelastung des Wahlärztesektors: „Im Wahlarztreferat Niederösterreichs gibt es immer wieder Berichte, wonach zeitweise Kollegen weniger Patienten haben, dann wieder mehr. Das hat es immer gegeben.“
Doch, so der Standesvertreter: „Was wir aber extrem bemerken, das ist die Auslagerung bestimmter Leistungen. Das sind die Echokardiografie und die Doppler-Ultraschalluntersuchungen.“ Das würden die Kassenärzte nicht auffangen können. Reisner: „Jedoch nicht, weil sie keine Kapazitäten haben, sondern weil es sich um gedeckelte Leistungen handelt, die nur in gewissen Prozentzahlen verrechenbar sind. Und wenn ein Internist dann 50% der Echokardiografien gratis durchführen soll, funktioniert das nicht mehr.“
Steigerungen bei MRI-Untersuchungen sind ebenfalls gedeckelt. Fazit: Im Bezirk Wiener Neustadt gibt es zum Beispiel seit Kurzem ein MR-Institut, das nur noch privat verrechnet. „Das wird von den Patienten gut angenommen“, so Reisner.
Auch in NÖ verschiebt sich die Relation zwischen Kassen- und Wahlärzten. 2008 waren es 1.261 Kassen- und 1.753 Wahlärzte, Anfang 2015 1.327 Kassen- und 1.998 Wahlärzte. Der niederösterreichische Kammerpräsident, der die Unterscheidung zwischen „versorgungswirksamen“ und „nicht versorgungswirksamen“ Wahlärzten ablehnt und jeden Wahlarzt als versorgungsrelevant bezeichnet: „Wir rechnen, dass in NÖ etwa ein Drittel der ärztlichen Leistungen in Ordinationen im Wahlarztbereich erfolgt.“
„Die Wartezeiten auf Termine im Wahlarztbereich werden länger“, bestätigte die NÖ-Wahlärzte-Referentin Dr. Martina Hasenhündl die Situation in ihrem Bundesland. Besonders die Fachärzte hätten sicher eine gewisse Versorgungswirksamkeit. Und wo die Wartezeiten im Kassenbereich lang seien, werde vermehrt nach Wahlärzten gefragt. „In der Dermatologie, in der Internen, bei den Orthopäden und Augenärzten schon seit Langem.“
Laut Hasenhündl dürfe sich das Gesundheitswesen nicht vormachen, in Zukunft Lücken über das Wahlarztsystem stopfen zu können: „Auch 50% der Wahlärzte werden in den nächsten Jahren in Pension gehen. Die Altersstruktur ist die gleiche wie bei den Kassenärzten.“ „Das hängt mit den degressiven Honorarkatalogen und mit den Deckelungen zusammen“, kommentierte die oberösterreichische Wahlarztreferentin Dr. Claudia Westreicher die Entwicklung in ihrem Bundesland. „Wir haben schon etwa 1.000 Wahlärzte – und etwa 1.000 Kassenärzte.“ In Fächern wie der Augenheilkunde oder der HNO würden die Ambulanzen zurückgefahren. Der Kassenbereich könne das kaum auffangen. „Wir haben definitiv offene Kassenstellen“, betonte die Allgemeinmedizinerin, da sei es kein Wunder, wenn die Patienten zu Wahlärzten gingen.
Der Kärntner-Ärztekammer-Präsident Dr. Josef Huber sieht auch bei den Ärzten einen Trend in Richtung Wahlarzttätigkeit: „Die Wahlarztberatung für Ärzte, die in diesem Bereich arbeiten wollen, hat stark zugenommen. Es sind mehr Kollegen daran interessiert.“ Er, Huber, sei der Überzeugung, „dass das Spitalswesen nur entlastet werden kann, wenn Leistungen in die niedergelassene Praxis verlagert werden“. „Aber“, so der Kammerpräsident: „die Strukturen (in der Kassenmedizin; Anm.) sind sehr restriktiv.“ Das führe zu immer längeren Wartezeiten, Krisenpunkte seien da insbesondere die Augenheilkunde, die Neurologie und bisher auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Hier würden immer mehr Patienten das Angebot von Wahlärzten nutzen.
Zumindest bei den Fachärzten – den Spitalsärzten – wird sich wohl der Trend in Richtung mehr Wahlarzttätigkeit fortsetzen. Dr. Helmut Prieschl, Augenarzt in Linz: „Ich arbeite zwei Tage im Spital operierend, drei Tage in meiner Wahlarztpraxis. Ich bin damit sehr zufrieden. Ich schaue, dass die Wartezeiten nicht länger als zwei Wochen sind. Werden sie länger, schiebe ich einen zusätzlichen Samstag ein. Wenn man sich bei den Honoraren in etwa an den Kassentarifen orientiert, zahlen das die Leute auch. Man sollte Kassen- und Wahlarztbereich nicht antagonisieren.“ Beides habe einfach seine Berechtigung.
Der Ophthalmologe weiter: „Ich höre von immer mehr ‚hartgesottenen‘ Spitalsärzten, dass sie überlegen, eine Wahlarztpraxis zu eröffnen.“ Stress und gleichzeitig weniger Dienstzeiten im Krankenhaus und die ständig steigende Überregulierung im kassenmedizinischen Bereich seien hier ausschlaggebend.
Freilich, mit der Ausweitung des Wahlarztbereiches verlagert das österreichische Gesundheitswesen auf jeden Fall finanzielle Belastungen auf den Rücken der Patienten. Die Situation ist hier offenbar von Krankenversicherung zu Krankenversicherung unterschiedlich. „Bei den ‚kleinen Kassen‘ wie BVA, SVA, Gemeindebedienstete etc. funktioniert die Rückvergütung exzellent. Aber die haben ja immer schon einen 20%-igen Selbstbehalt gehabt. Da ist das kein ‚Fremdkörper‘“, so Prieschl.
Anders ist das offenbar bei den Gebietskrankenkassen. Millauer, seit 17 Jahren Wahlarzt in der Steiermark: „In Wien werden von der GKK vielleicht 80% refundiert, in der Steiermark sind es oft nur noch 30%.“ Ähnliches berichtete auch die OÖ-Wahlärztereferentin Westreicher. Der vermutete Grund: Man will scheinbar die im Kassenbereich degressive Honorierung mit niedrigeren Gesamtzahlungen auch im Wahlarztbereich umsetzen. Nur zahlt das eben der Patient via niedrigerem Rückersatz.