Das Reizdarmsyndrom – Klinisch tückisches Leid mit therapeutischen Besonderheiten

Epidemiologie, Ursachen und Diagnostik: Das Reizdarmsyndrom (RDS) wird welt – weit bei ca. 10-20% der Bevölkerung beobachtet, wobei ca. 20-50% der Betroffenen deswegen ärztliche Hilfe suchen, Frauen häufiger (60-75%) als Männer. Psychosoziale Faktoren beeinflussen ebenso wie physiologische Fehlregulationen die Krankheitserfahrung, das Patientenverhalten und den Beschwerdeverlauf. Als auslösende Ereignisse konnten bisher gastrointestinale Infektionen (“postinfektiöses RDS”) bzw. Entzündungen, psychische oder physische Stressbelastungen und länger unerkannt gebliebene Nahrungsmittelunverträglichkeiten (Überreizung des Darmes) identifiziert werden. Häufig ist eine Überlappung all dieser Faktoren in der Anamnese zu finden. Als pathophysiologische Grundlage wird die Entwicklung einer viszeralen Hypersensitivität angenommen. Die Definition und Diagnostik des RDS erfolgt nach den Rom-III-Kriterien (> Tab.).

 

Tab.: Rom-III-Kriterien des Reizdarmsyndroms
Hauptkriterien:
Seit 6 Monaten abdominelles Unbehagen oder abdominelle Schmerzen an mindestens 3 Tagen pro Monat, während der letzten 3 Monate mit zumindest 2 oder mehr der folgenden Symptome:a. Besserung nach der Defäkation

b. Beginn assoziiert mit einer Änderung der Stuhlfrequenz

c. Beginn assoziiert mit einer Änderung der Stuhlkonsistenz

 

Je nach dem vorwiegenden Symptom kann eine RDS-Subtypisierung “RDS mit Obstipation”, “RDS mit Durchfall”, “RDS gemischt” oder “RDS unspezifiziert” erfolgen. Das wichtigste diagnostische Instrument besteht im Erfragen der RDS-Symptome (nach den Rom-III-Kriterien). Häufig berichten Betroffene auch von einem Gefühl der inkompletten Entleerung, Schleimbeimengungen zum Stuhl, Blähungen und einem Distensionsgefühl des Abdomens. Eine klinische Objektivierung ist meist nicht möglich. Zum Ausschluss anderer Erkrankungen wird empfohlen, folgende Untersuchungen zu erheben: Blutbild, Blutsenkung, CRP und Stuhluntersuchungen auf okkultes Blut. Bei Durchfall sind Stuhluntersuchungen auf bakterielle und parasitäre Erreger und eventuell auch die Bestimmung der Elektrolyte sowie der Schilddrüsenfunktionsparameter zu empfehlen. Zum Ausschluss einer Zöliakie sind endomysiale Antikörper bzw. Gliadin-Antikörper zu bestimmen. Die Testung von Nahrungsmittel-IgG-Antikörpern mit konsekutiven Diätempfehlungen ist nicht sinnvoll, da diesbezüglich weitere wissenschaftliche Daten zur Empfehlung für die klinische Praxis fehlen. Eventuelle Reaktionen auf Lebensmittel bei Pollenallergien (Kreuzreaktionen) können mittels Hauttest ermittelt werden. Bei Hinweis auf Laktosemalabsorption kann ein Laktose-H2-Test hilfreich für eine Diätempfehlung sein. Empfehlenswert ist eine Koloskopie mit Biopsie bei Patienten ab dem 40. Lebensjahr, insbesondere aber bei jüngeren Patienten, wenn auch Alarmsymptome wie okkultes Blut im Stuhl oder Entzündungszeichen im Labor zu finden sind, weiters bei einer positiven Familienanamnese bezüglich kolorektaler Karzinome oder chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa).
Folgende Symptome gelten als “Alarmzeichen” und weisen auf eine andere Erkrankung hin: Blut im Stuhl, Fieber, Entzündungszeichen im Blut, Gewichtsverlust und nächtliche Schmerzen/ Koliken. Häufig sind mit dem RDS auch Sodbrennen, Fibromyalgie, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und urogenitale Beschwerden vergesellschaftet. Diese Symptome sind wenig hilfreich für die Diagnose RDS, korrelieren aber häufig mit der Schwere des RDS und sind mit psychologischen Faktoren verknüpft. Patienten mit RDS, die Fachärzte oder spezialisierte Abteilungen aufsuchen, weisen in ca. 60% psychische Störungen auf; viele leiden auch an Schlafstörungen oder waren Opfer von psychischem, physischem oder sexuellem Missbrauch. Daher ist eine orientierende psychosomatische Diagnostik in jedem Fall hilfreich. Fragen nach Symptomen einer psychischen Störung wie z. B. einer Depression oder einer Angsterkrankung sowie die Erfassung psychosozialer Einschränkungen der Betroffenen (z. B. sozialer Rückzug, keine Reisen unternehmen etc.) sind wichtig zur Einschätzung des Schweregrades. Das RDS soll nicht als reine Ausschlussdiagnose (“Durchuntersuchung, bis alles andere ausgeschlossen ist”) verstanden werden. Eine wiederholte Diagnostik bei gleich bleibender Symptomatik soll jedenfalls vermieden werden.

Klinische Betreuung und Therapie: Im Zentrum der Therapie steht die Aufklärung, Beruhigung, Beratung und Begleitung der Betroffenen. Einer der ersten therapeutischen Schritte ist die Identifikation von Triggerfaktoren für die Verstärkung der RDS-Symptome. Dafür ist das Führen eines Symptomtagebuches über ca. 2-4 Wochen hilfreich. Eine verminderte oder überschießende Zufuhr von Ballaststoffen, ein übermäßiger Konsum von schwer resorbierbaren Zuckern (z. B. Fruktose, Sorbit) oder von Stimulantien der Peristaltik (z. B. Kaffee oder Tee) können die Symptome eines RDS auslösen oder verstärken. Es soll aber nicht nur auf die Ernährungsgewohnheiten geachtet werden, sondern auch auf Emotionen und Gefühle im Zusammenhang mit der Entstehung und Aufrechterhaltung der Symptome. Hormonveränderungen (Menstruationszyklus) oder Stress können ebenso zu einer Überreaktion des Darmes führen.

Medikamentöse Therapien (je nach Symptomatik):

  • Bei Bauchkrämpfen Spasmolytika, Mebeverin, Butylscopolamin.
  • Bei Durchfall Loperamid, Cholestyramin.
  • Bei Verstopfung Psyllium, Methylcellulose, Polyethylenglykol, Laktulose und Faserpräparate.
  • Bei starken, wenig beeinflussbaren Schmerzen können selektive Serotonin- Reuptake-Inhibitoren und trizyklische Antidepressiva eingesetzt werden.
  • Einige Studien belegen, dass Bifidobakterien, Laktobazillen, E. coli Nissle 1917 ± Streptokokkenstämme eine gewisse, eventuell unspezifische Wirkung beim RDS haben, ebenso Pfefferminzöl bei Diarrhö und Schmerz sowie STW 5 bei Schmerzen und Völlegefühl.
  • Eine neue medikamentöse Therapieoption bei therapieresistentem RDS ist die Behandlung mit dem nicht-resorbierbarem Antibiotikum Rifaximin.

Psychotherapeutische Maßnahmen zählen laut mehreren systematischen Reviews zu den effektivsten (NNT = 4) Behandlungsmethoden und sind auch langfristig wirksam. Davon ist die speziell für das RDS entwickelte “Bauchgerichtete Hypnosetherapie” (“gut-focussed hypnotherapy”) mit einer NNT von 2 am erfolgreichsten. Dafür sind ca. 10-12 Sitzungen zu je einer Stunde 1-mal wöchentlich erforderlich.
Betroffene mit RDS bedürfen jedenfalls einer integrierten psychosomatischen Versorgung, die einerseits die biologischen Faktoren kompetent abklären und behandeln kann, andererseits auch die psychosoziale Dimension dieser Beschwerden erfassen und den Leidensdruck der Betroffenen zu vermindern vermag.

 

FACT-BOX

  • Unter RDS-Beschwerden (Bauchschmerzen und wechselnden Stuhlverhalten) leiden ca. 10-20% der Bevölkerung. Ein Drittel hat sehr beeinträchtigende Symptome, spezifische organ-pathologische Befunde fehlen. Die Diagnostik erfolgt nach den Rom-Kriterien, wiederholte organische Untersuchungen sind zu vermeiden.
  • Mehr als die Hälfte der Betroffenen, die gastroenterologische Spezialisten aufsuchen, leiden unter psychischen Störungen wie Angst, Depressivität und haben oft belastende (traumatisierende) Lebensereignisse hinter sich.
  • Die Betreuung der Betroffen soll am besten integriert psychosomatisch erfolgen, wo einerseits eine symptomatische medikamentöse Therapie je nach vorrangigen Beschwerden erfolgen kann und andererseits auch psychotherapeutische Behandlungsmethoden angeboten werden können.