2030: 6 von 10 Ärzten werden fehlen!

Von der Politik hartnäckig geleugnet und von der Ärztekammer nur erfunden? Wie sieht es wirklich aus mit der medizinischen Versorgung Österreichs in ein paar Jahren? Wir rattern in die größte Krise des heimischen Gesundheitswesens – schon alleine aufgrund der demografischen Entwicklung, dem mangelnden bzw. abwandernden Ärztenachwuchs und der Tatsache, dass die Medizin immer weiblicher wird und damit keine Vollzeitäquivalente zur Verfügung stehen – und die Politik negiert das alles. Gesundheitsökonomen verweisen auf die letztverfügbaren OECD-Zahlen, wonach Österreich (nach Griechenland) die zweithöchste Ärztedichte Europas hat und es sich daher eher um ein „Verteilungsproblem“ handelt. Mag. Claudia Habl, Gesundheitsökonomin: „In Österreich kommen demnach 4,9 Ärzte auf 1.000 Einwohner. Damit liegt Österreich deutlich über dem Durchschnitt der anderen Industrienationen mit 3,3 Ärzten auf 1.000 Bewohner.“

„Die OECD-Zahlen stimmen nicht!“

Dem widerspricht Prof. Dr. Leo W. Chini, Honorarprofessor am Institut für KMU-Management und Leiter des Forschungsinstitutes für Freie Berufe an der Wirtschaftsuniversität Wien: „Diese Zahlen sind schon deswegen schlicht falsch, weil die einzelnen Länder einfach nicht verglichen werden können – so werden zum Beispiel in Österreich Köpfe, beinhaltend auch teilzeitbeschäftigte und in Ausbildung befindliche Ärzte, herangezogen, die natürlich nicht alle voll versorgungswirksam sind“, meint Chini. „Umso schlimmer, wenn diese Zahlen als Grundlage vieler politischer Entscheidungen in Österreich dienen. Was wir auf jeden Fall kennen, ist die Altersstruktur der Ärzte, die ist ein fixer Parameter.“ Er kommt zu dem dramatischen Schluss: „Im Jahr 2030, also in 14 Jahren, wird es eine ärztliche Unterdeckung von 65–70% geben.“ Ähnliche Zahlen sind für ganz Österreich zu erwarten. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die Ärzte der Baby-Boomer-Generation gehen in den nächsten Jahren in Pension, und die demografische Entwicklung tut das ihre dazu – die Einwohnerzahlen nehmen zu, die Lebenserwartung steigt und zugleich gibt es immer mehr chronische Erkrankungen. 60–65% der gesamten Arzneimittelaufwendungen sind für Menschen ab 60. Noch dazu steht es sehr schlecht um die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen – Übergewicht und Bewegungsmangel seien nur als Stichworte genannt. „Unsere Jugendlichen werden frühzeitig medizinische Leistungen in Anspruch nehmen müssen, wenn wir diese Entwicklung nicht stoppen können.“ Aber die Politik will es nicht wahrhaben. Chini: „Betrachtet man die Entwicklung der Kassenplanstellen vom Jahr 2010–2016 vs. der Bevölkerungsentwicklung in Wien, so wird schnell klar: Während die Einwohnerzahl auf 109% gestiegen ist, wurden die Kassenarztstellen im selben Zeitraum auf 95% reduziert – Fachärzte auf 97% und Allgemeinmediziner sogar auf 93%!“ (s. Tab.) Leider gelänge es in Österreich nur sehr schwer, eine neutrale Analyse auf den Teppich zu bringen, weil „zu viele politische Interessen im Spiel sind“.

 

 

Unterdeckung von 50% im stationären Bereich

Der Ärztemangel werde im Übrigen nicht nur den gesamten niedergelassenen Bereich betreffen, sondern auch den stationären. „Im Jahr 2030 werden wir bei einer Unterdeckung von ca. 50% liegen. Das müssen die Verantwortlichen in der Politik endlich akzeptieren und darauf reagieren“, so Chini. „Die Deutschen, die mit ähnlichen Problemen kämpfen, haben das bereits verstanden, auch Zürich hat reagiert und die Studienplätze dramatisch erhöht. In anderen Ländern hat man dieses fundamentale Problem also er- kannt und entsprechende Maßnahmen gesetzt, während hierzulande gebetsmühlenartig von einer der größten Ärztedichten Europas gesprochen wird.“

Um ein männliches Vollzeitäquivalent zu erreichen, ist es erforderlich im Durchschnitt drei Ärztinnen zu beschäftigen* – bedingt durch Schwangerschaften und Kinderbetreuung, aber auch den Trend von Frauen zur Teilzeitbeschäftigung, was sich bei der nachfolgenden Generation Y („Millennials“) noch weiter niederschlagen wird, da den jungen Menschen die Work-Life-Balance extrem wichtig ist.

Zusätzlich besteht eine Nachwuchsproblematik – Dr. Karl Dorfinger (Präsident des Berufsverbandes der Österreichischen Urologen) kritisiert die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium – es werden zu wenig ausgebildet und von jenen, die fertig werden, gehen aufgrund besserer Rahmenbedingungen und höherer Gehälter zu viele (wieder) ins Ausland. Er schlägt eine Art „soziales Jahr“ am Beginn des Medizinstudiums vor, um die geeigneten herauszufinden, anstatt des derzeit praktizierten Aufnahmetests.

Auch MMag. Agnes Streissler-Führer (Wirtschaftspolitische Projektberatung) betont die Wichtigkeit ärztlicher Ausbildung: „Es muss in der Ausbildung wieder sehr stark in den Vordergrund gerückt werden, dass der Arztberuf tatsächlich Arbeit am und mit dem Menschen ist und nicht nur Forschungsmedizin.“

Auswege aus dem Ärztemangel?

Streissler-Führer plädiert dafür, das Krankenpflegepersonal mehr in den Behandlungsprozess einzubinden: „Mit 7,8 Krankenpflegerinnen – meist sind es ja Frauen – auf 1.000 Einwohner, liegt Österreich auf Rang 21 von 34 Ländern und unter dem OECD-Durchschnitt von 8,8 Krankenpflegern je 1.000 Einwohner. Gegenüber dem Jahr 2000 hat sich allerdings die Zahl erhöht: Damals kamen in Österreich 7,2 Krankenpfleger auf 1.000 Bürger.“ Sie wünscht sich eine Aufwertung des Krankenpflegepersonals als eine notwendige zusätzliche Hilfe, um die „sicherlich steigende Gesundheitsdienstleistungsnachfrage bewältigen zu können“.

MR Dr. Gustav Kamenski, Arzt für Allgemeinmedizin: „Wir arbeiten im niedergelassenen Bereich schon lange mit den Pflegediensten zusammen. Aber natürlich gibt es auch eine Haftungsfrage, vor allem in diagnostischer Hinsicht – und wo ist die Grenze? Und wie soll eine DGKS gefährliche Verläufe immer erkennen? Wie soll sie die hoch komplexe medikamentöse Therapie bei Patienten handhaben, die bis zu 15 Medikamente bekommen? Da helfen auch die Interaktionsprogramme nicht immer. Ich denke die DGKS sind arm dran, wenn wir Verantwortung nur aus Gründen des Ärztemangels abwälzen. Das ist für mich verantwortungslos. Dem entgegnet Streissler-Führer: „In anderen Ländern, zum Beispiel Großbritannien, ist es offensichtlich gelungen, Krankenpflegepersonal auch rechtlich in eine andere Verantwortung zu bringen. Und da gibt es dann natürlich schon auch ökonomische Überlegungen – wenn bei uns das Krankenpflegepersonal unterhalb des österreichischen Durchschnitts verdient. Daher müssen wir den Beruf auch einkommenstechnisch aufwerten, dann werden sich auch Personen finden, die diesen Beruf ergreifen. Und da die Ausbildung kürzer ist, wäre das schon auch ein Instrument, wie man den Engpässen begegnen kann.“ Chini verweist darauf, dass auch im Pflegebereich ein massiver Personalmangel besteht und außerdem die Zeit für zusätzliche Ausbildungen – sowohl im ärztlichen als auch im nichtärztlichen Bereich nicht mehr ausreicht, um nicht in eine „fundamentale Krise zu kommen“.

 

 

Allgemeinmediziner verdienen 1,5%der Versicherungsbeiträge

Wie eine aktuelle Umfrage der Ärzte Krone aufzeigen konnte, fühlen sich Ärzte von Seiten der Patienten hochgeschätzt, von Politik und Krankenkassen aber umso weniger. Das Gehalt (als Teil der Wertschätzung) könnte auch höher sein, vergleicht man es mit anderen Berufen, zum Beispiel Anwälten. Und das bei der extrem hohen Verantwortung von Ärzten.

Was bekommen Ärzte für ihre Arbeit? Ein Beispiel aus dem Jahr 2014: Da wurden € 8.839.408.720,20 aus Beiträgen eingehoben. Davon erhielten die Ärzte folgende Beträge:

  • Ärzte für Allgemeinmedizin  → 136.826.603,50 → das sind 1,5% vom Kuchen
  • Fachärzte 237.120.639,47 → das sind 2,7% vom Kuchen

Habl erläutert, dass Ärztegehälter über dem österreichischen Durchschnittsgehalt liegen, während manche andere im Gesundheitswesen tätige Berufsgruppen, wie zum Beispiel OrdinationsassistentInnen – trotz zunehmender Verantwortung und Übernahme von Tätigkeiten –, deutlich unter diesem Durchschnittsgehalt liegen. Auch Streissler-Führer meint, dass „die Ärzteeinkommen nicht so schlecht sind – Österreich liegt durchaus im oberen Bereich. Kanada, Belgien, Luxemburg und die Niederlande haben noch höhere Einkommen. Ich glaube, es liegt eher an den Arbeitsbedingungen.“ Die müsse man ändern, dann würden sich die Zufriedenheit mit dem Beruf und die Attraktivität des Berufes positiv verändern. Es gehe auch darum, die Arbeitsbedingungen für Menschen mit Betreuungspflichten – Väter wie Mütter – zu verbessern. Chini zitiert die Ärztekosten-Statistik des Hauptverbandes: „Ein Arzt für Allgemeinmedizin macht einen Umsatz von ca. 240.000 Euro im Jahr, da bleiben netto 2.500–3.000 Euro pro Monat auf 14-mal. Das ist für einen derartigen Job und eine derartige Ausbildung viel zu wenig. Und das für einen Akademiker mit so einer hohen Verantwortung!“

Welchen volkswirtschaftlichen Nutzenhat ärztliche Leistung?

Ärzte werden nur als Kostenfaktor gesehen – aber was leisten sie wirklich für die Volkswirtschaft? Chini: „Die ärztliche Leistung ist eine höchstpersönliche Dienstleistung, die volkswirtschaftlich von ganz großer Bedeutung ist, aber im System nicht adäquat dargestellt wird: Wenn ein Arzt einem Patienten mit einer gebrochenen Hand bei der Heilung unterstützt und der Patient nach drei Wochen wieder in den Arbeitsprozess zurückkehren kann, der Arzt für diese Leistung aber nur ein entsprechend viel geringeres Honorar von z.B. 50 Eurobekommt, ist das für die Volkswirtschaft von enormem Wert. Der Nutzen ärztlicher Leistung wird falsch bewertet, weil er durch Kosten bewertet wird. Das ist absurd. Man denke im Vergleich dazu nur an Honorare von Rechtsanwälten. Prinzipiell ist der Nutzen ärztlicher Leistung gesamtwirtschaftlich schwer darzustellen, aber es liegt wie bei jedem freien Beruf nahe, dass das volkswirtschaftliche Ergebnis ein Vielfaches der Kosten ist. Und das wird meiner Meinung nach bei gesundheitspolitischen Entscheidungen viel zu wenig diskutiert.“

Wünsche an das System?

Einstimmig wurde von den Experten die Spitalslastigkeit des österreichischen Gesundheitswesens kritisiert. Streissler-Führer: „Weit im Spitzenfeld rangiert Österreich nach der Statistik bei der Spitalsversorgung, speziell bei der Ausstattung mit Akutbetten in Spitälern. Trotz einer Reduktion seit dem Jahr 2000 kommen auf 1.000 Einwohner in Österreich 7,7 Krankenhausbetten, 2000 sind es sogar 8,0 gewesen. Aber auch der jetzige Wert liegt noch weit über dem OECD-Durchschnitt mit 4,8 Spitalsbetten.“ Sie wünscht sich einen Rückbau des stationären Bereichs und eine verbesserte Kommunikation zwischen stationärem und niedergelassenem Bereich. Generell solle der Föderalismus im Gesundheitswesen auf ein Minimum reduziert werden.
Kamenski meint, dass „einmal jemand vom System in meine Ordination kommen soll, um zu sehen, was alles abläuft, also Telefonanrufe, RE2-Dokumentation, das zeitraubende und Kapazitäten blockierende Ansuchen über das ABS-System, Totenbeschau, Visiten etc. Vielleicht agieren die Stakeholder dann anders, als uns dauernd zu blockieren!“
Habl hofft, dass der Elan bei der Gesundheitsreform nicht verlorengeht. „Die Zusammenarbeit und den Dialog zu fördern ist für mich der wichtigste Punkt. Wir brauchen eine Plattform, in der intersektoral und multiprofessionell zusammengearbeitet wird.“
Chini propagiert „Strategien, Ärzte mit jeweiligen Business-Konzepten zu versehen, die es ermöglichen, dass sie sich wieder primär auf die ärztliche Leistung konzentrieren können.“ Und: Die Universitäten müssten ihre Kapazität erweitern und mehr Ärzte ausbilden.
Dorfinger meint abschließend: „Ich wünsche mir, dass vor allem die ideologische Diskussion aus der Gesundheitsdiskussion herausgehalten wird – weil das ist eines der Hauptprobleme, vor dem wir stehen.“

* Quelle: IGES-Institut

„Wir wollen endlich Taten sehen!“

Die meisten Länder Europas klagen über Ärztemangel und fehlenden Ärztenachwuchs. Auch Österreich hat hier echte Probleme, vor denen die Ärztekammer schon seit Jahren warnt. Im Unterschied zu anderen Ländern wird allerdings dieses Problem hierzulande von vielen Politikern, „Gesundheitsexperten“ und Kassenfunktionären schlichtweg geleugnet.

Dabei ist der Befund völlig eindeutig: Mehr als 60 Prozent der Kassenärzte erreichen in zehn Jahren das gesetzliche Pensionsalter, derzeit sind mehr als 70 Kassenordinationen unbesetzt, und auch in vielen Spitälern ist die Postenbesetzung alles andere als einfach. Genügend Nachwuchs ist nicht in Sicht: 2015 gab es an Österreichs MedUnis 1.952 Absolventen, ebenso viele wie im Jahr 2003. Die Anzahl ausländischer Studierender war 2003 noch 85, 2015 bereits 484. Es ist also klar, dass ein hoher Anteil der Absolventen nicht in Österreich arbeiten wird. Hier ist die Bildungspolitik gefordert, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Ärztenachwuchs zu sichern.

International diskutierte Maßnahmen sind u.a. die Schaffung neuer Studienplätze, eine Neugestaltung der Bildungsinhalte, eine Verkürzung der Ausbildungsdauer bei gleichzeitiger Intensivierung der Ausbildungsaktivitäten, die Verhinderung bzw. Verzögerung der Absolventen-Abwanderung ins Ausland etc. Es ist Aufgabe der Politik, hier das jeweilige Pro und Contra zu evaluieren und wirksame Entscheidungen zu treffen – und das möglichst schnell.

Es wird auch unumgänglich sein, die Arbeitsbedingungen für Ärzte ausreichend attraktiv zu gestalten. Nur so kann man Junge zum Medizinstudium und zum Arztberuf motivieren und dazu beitragen, dass sie eine Tätigkeit in Österreich gegenüber einer im Ausland den Vorzug geben.

Was dazu nötig ist, das teilen wir der Politik schon seit Langem mit. Jetzt wollen wir endlich Taten sehen!

Dr. Johannes Steinhart