Eine 24-jährige Patientin mit Burn-out meldet sich an einem Freitagnachmittag kurz vor Ende der Ordinationszeit bei ihrem Hausarzt. Sie sei seit Monaten heillos überfordert, müde und erschöpft. Kommende Woche habe sie im berufsbegleitenden Hochschullehrgang noch eine wichtige Prüfung, kurzum: Sie müsse jetzt einfach noch ein paar Tage funktionieren. Als Hausarzt erleben Sie in dieser Situation Druck – und zugleich Ohnmacht, wissend, dem Wunsch nach „funktionieren wollen“ nicht wirklich entsprechen zu können. Doch wir sind ja aufs Helfen trainiert, eine schnelle Lösung muss also her. Die Patientin wirkt fast flehentlich, Sie erleben sie in großer Not, sie vermittelt Ihnen die enorme Bedeutung dieser Prüfung. Schon stehen Sie mitten in der Ambivalenz zwischen sofortigem Hilfsangebot und grundlegenden Ideen zu notwendigen Veränderungsprozessen.
In der Psychotherapie wird der Begriff der Achtsamkeit in den letzten Jahren zunehmend ins Zentrum von Behandlungen gestellt. Es gibt eigene Kongresse und Tagungen dazu, selbst Achtsamkeitstherapien haben sich inzwischen etabliert. Im Buddhismus etwa werden die vier Grundlagen der Achtsamkeit auf Körper, Gefühle, Geist und Geistesobjekte bezogen. Eine einheitliche Begriffsdefinition fehlt in Fachkreisen immer noch, jedoch: Was könnte Achtsamkeit für die Allgemeinmedizin bedeuten?
Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortlichkeit werden als die intrasubjektive Form der Achtsamkeit definiert. Das könnte für uns Allgemeinmediziner heißen, dass wir unseren Focus in der Beratung und Behandlung des Patienten primär auf diese Ebenen lenken. Die Grenzen und damit die Eigenständigkeit unseres Gegenübers zu erkennen und zu respektieren, sind wesentliche Dimensionen der intersubjektiven Form der Achtsamkeit, ohne die wir unseren Patienten nur schwerlich gerecht werden können. Indem wir aber auch selbst Teil jeder Interaktion sind, muss sich die Achtsamkeit ebenso auf uns selbst richten: Schaffen wir es selbst nicht, hier eine Balance zu erreichen, werden zukünftige Studien uns Allgemeinmedizinern einmal mehr Burn-out-Gefährdung und Suchtanfälligkeit bescheinigen.
Achtsamkeit meint aber noch mehr als intra- und intersubjektive Aufmerksamkeit – etwa das präsente Wissen um unsere innerseelischen Vorgänge oder das Erkennen unserer Ressourcen und den Umgang damit. Diese Form der Achtsamkeit wiederum kann wesentlich dazu beitragen, in respektvollen Dialog mit sich und dem Anderen zu treten. Bedenkt man zudem, dass im Konzept der Selbstverantwortlichkeit das Bewusstsein besteht, dass wir nicht für (selbstbestimmte) Andere verantwortlich sind, ergibt sich für uns die Verantwortung für das Angebot, das wir unseren Patienten mit aller Sorgfalt stellen. In weiterer Folge trauen wir ihnen zu, dieses Angebot zu ihrem Wohl anzunehmen und zu ihrem Gesunden zu nutzen.
Oft begegnen wir passiven Heilungsansprüchen, wie im obigen Fallbeispiel. Die Not, der Druck und die Ohnmacht, denen wir dabei begegnen, könnten uns hilflos machen. Das kann sowohl zu Ablehnung und Zurückweisung führen, als auch dazu verleiten, ein unmögliches Angebot zu stellen. In beiden Fällen sind wir Reagierende. Wir haben – vorübergehend – die Haltung der Achtsamkeit verloren. Was sind meine Ressourcen (freitagnachmittags)? Welches Angebot könnte zu welchem Zweck hilfreich sein (die zugrunde liegende Depression kann ich in wenigen Tagen kaum ausreichend behandeln)? Was kann ich der Patientin zutrauen? Was kann ich mir zutrauen?
Achtsamkeit meint jedoch nicht Fürsorglichkeit oder Behutsamkeit!
Schließlich möchte ich auch noch eine weitere mögliche Dimension der Achtsamkeit in diesen Diskurs einbringen, nämlich die des bewussten Umgangs mit Ressourcen, die uns als Hausärzten zur Verfügung stehen. Nicht alles, was machbar ist, steht auch im Einklang mit dem Patienten, mit den persönlichen und ökonomischen Sinnhaftigkeiten.
Achtsamkeit zu entwickeln, ist in jedem Fall ein guter Weg, achtlose Routine zu verhindern – oder aber aus ihr auszubrechen.
Ich darf bereits jetzt auf unser Expertenmeeting zum Thema PSA am 10. 4. 2013 verweisen. In diesem Rahmen wird auch ein neuer Patienteninformationsfolder zum Thema vorgestellt werden – Details dazu auf unserer Website www.tgam.at.