ADHS (Aufmerksamkeitsmangel-Hyperaktivitätssyndrom) und ADS (Aufmerksamkeitsmangel-Syndrom)

Vom Aufmerksamkeitsmangel mit und ohne Hyperaktivität scheinen etwa 5 % der Kinder betroffen zu sein, Buben 3- bis 5-mal häufiger als Mädchen. Bei Buben steht die Hyperaktivität stärker im Vordergrund (das Verhältnis von Buben zu Mädchen ist circa 5 : 1), Mädchen sind eher von Unaufmerksamkeit und Verträumtheit (ADS) betroffen.
Bei bis zu 3 % der Kinder ist die Symptomatik so ausgeprägt, dass Interventionen notwendig sind, wie eine psychotherapeutische und/oder medikamentöse Behandlung, spezielle Unterstützung im Kindergarten beziehungsweise in der Schule (zum Beispiel individuelle Betreuungspersonen).

Neurobiologische Auffälligkeiten bei ADHS

Bei Kindern mit ADHS finden sich Auffälligkeiten in der Informationsverarbeitung zwischen Hirnabschnitten, die für Konzentration, Wahrnehmung und Impulskontrolle verantwortlich sind, wobei insbesondere die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin von einer Dysregulation betroffen sind.

Genetik. Wesentlich sind erbliche Anteile bei polygenem Erbgang und scheinen zu 75 % bei Kindern mit ADHS vorzuliegen: So zeigen 80 % der eineiigen und knapp 30 % der zweieiigen Zwillinge die gleiche Symptomatik, Geschwister haben ein höheres Risiko, meist ist auch einer der Elternteile betroffen.

Risikofaktoren

Frühgeburtlichkeit: Bei Frühgeborenen der 23. bis 28. Schwangerschaftswoche besteht ein doppelt so hohes, bei Frühgeborenen der 35. bis 36. Schwangerschaftswoche ein um 30 % erhöhtes Risiko für ADHS. Ebenso erhöhen Alkohol, Nikotin, Drogen, Medikamente (Valproat?) in der Schwangerschaft sowie eine Meningoenzephalitis des Kindes – auch nach der Neugeborenenperiode – das Risiko für ADHS.

Psychosoziale Einflüsse sind nicht Ursache von ADHS, modifizieren jedoch die Symptomatik beziehungsweise haben negative Auswirkungen: dazu zählen eine unvollständige Familie, psychische Erkrankung eines Elternteils, familiäre Instabilität, ständiger Streit zwischen den Eltern, ein niedriges Familieneinkommen, beengte Wohnverhältnisse, Inkonsequenz in der Erziehung, häufige Kritik und Bestrafungen, ungünstige Schulsituation et cetera.

Pathophysiologie

Es wird angenommen, dass vor dem Hintergrund neurochemischer Auffälligkeiten Kinder mit ADHS eine Schwäche in der zentralen Hemmung haben und wichtige von unwichtigen Reizen nicht entsprechend unterscheiden können. Dies führt zu Ablenkbarkeit, Konzentrationsschwäche und Impulsivität. Betroffene können nicht abwarten, bleiben im „Hier und Jetzt”, das Wohlergehen in der Zukunft wird weniger bedacht. Es zeigt sich eine Schwäche in der Informationsverarbeitung und in der Fähigkeit, nach Prioritäten zu selektieren und die Fülle der Informationen sinnvoll zu sortieren.

Symptome und Eigenschaften

Kernsymptome von ADHS sind:

  • Aufmerksamkeitsmangel mit verstärkter Ablenkbarkeit
  • Hyperaktivität – übersteigerter Bewegungsdrang
  • Impulsivität – unüberlegtes Handeln

Die Symptomatik kann vorwiegend hyperaktiv und impulsiv sein („Zappelphilipp“) oder vorwiegend unaufmerksam („Traumsuse“), wobei es natürlich Mischtypen gibt.

Begleitende (komorbide) Störungen:

  • Störung des Sozialverhaltens, vor allem oppositionelles, aggressives Verhalten
  • Lernschwierigkeiten und Teilleistungsschwächen wie Lese-und Rechtschreibschwäche, Rechenschwäche
  • depressive Störung, Angststörung
  • Autismus-Spektrum-Störung
  • Tic-Störung

ADHS-Kinder zeigen aber auch typische positive Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Spontaneität, Phantasie, Kreativität, schnelle Auffassung, Begeisterungsfähigkeit, unkonventionelle Ansichten, Gerechtigkeitssinn.

Symptome bei Erwachsenen

Bei Erwachsenen ist die motorische Hyperaktivität meist weniger ausgeprägt als bei Kindern. Hauptsymptome sind innere Unruhe, Vergesslichkeit, Schusseligkeit, impulsives Verhalten und unüberlegte Handlungen sowie Schwierigkeiten mit Planung und Organisation. Erwachsene mit ADHS erleben sich als innerlich ruhelos und getrieben. Sind sie für ein Thema zu begeistern, können sie meist mit großer Ausdauer und Motivation darauf fokussieren. Entscheidungen werden spontan, „aus dem Bauch heraus“ getroffen. Sie gehen spielerischer an Aufgaben heran und entwickeln oft besonders originelle Ideen. Probleme zeigen sich beispielsweise durch Jobabbruch, Depressionen, Suchtverhalten, Unfälle et cetera.

 

Zappelphilipp und Hans Guck-in-die-Luft

ADHS ist keine „moderne“ Krankheit.
Eine erste Beschreibung erfolgte bereits 1775 durch Melchior Adam Weikard. Berühmt geworden ist Dr. Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1844), mit den Hauptcharakteren Zappelphilipp (ADHS) und Hans Guck-in-die-Luft (ADS).
1902 beschreibt George Frederic Still unter der Bezeichnung „defect of moral control“ die typische Symptomatik von ADHS: „extreme Unruhe, ständig in Bewegung, mangelnde Fähigkeit, konzentriert und ausdauernd bei einer Sache zu bleiben, Leidenschaftlichkeit und mangelnde Willenskontrolle; durch Bestrafung nicht zu kontrollieren, nicht einfach nur ‚unmoralisch‘, ‚dumm‘ oder ‚unerzogen‘.“

Diagnosestellung

Neben der Anamnese sind standardisierte Fragebögen, die sich an Eltern sowie Lehrer und Kindergartenpädagoginnen richten und mit denen die Hauptkriterien Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsmangel, Impulsivität (nach den Richtlinien des ICD-10 und DSM-V) abgefragt werden, wesentliche Grundlagen für die Diagnosestellung. Häufig verwendet werden die Fragebögen nach Conners. Die Beobachtung der Kinder sowie eventuell computergestützte Testverfahren unterstützen die Diagnose.
Wichtig ist der Ausschluss anderer Erkrankungen. Dazu zählen zum Beispiel eine Hyperthyreose, psychiatrische Erkrankungen wie manische oder depressive Episoden oder Angststörungen. Eine Autismus-Spektrum-Störung ist häufig mit einer ADHS-Symptomatik kombiniert.
Je nach Problematik sind psychologische Testungen, wie zum Beispiel hinsichtlich der Leistungsfähigkeit (IQ-Tests), Testung auf eventuelle Teilleistungsschwächen et cetera unumgänglich notwendig.

Für die Diagnose ADHS sind folgende Zusatzkriterien zu beachten:

  • Beginn der Störung vor dem siebten Lebensjahr (im DSM-V vor dem 12. Lebensjahr),
  • Dauer: mindestens 6 Monate,
  • ADHS-Symptome treten sowohl zu Hause als auch in der Schule (Kindergarten, Spielplatz, Arbeitsstelle) auf.

 

Unterscheidung von wichtigen oder unwichtigen Reizen

Pro Sekunde sollen 400 Milliarden Bits an Informationen unser Gehirn erreichen.
Davon gelangen nur circa 2.000 Bits pro Sekunde in unser Bewusstsein (das sind nur 0,0000005 %).
Bei ADHS-Kindern zeigt sich eine Schwäche in der Fähigkeit, nach Prioritäten zu selektieren und die Fülle der Informationen sinnvoll zu sortieren.

Multimodale Therapie

Einen wesentlichen Pfeiler der Therapie stellt sicher die medikamentöse Therapie dar. Eine alleinige medikamentöse Therapie ist jedoch nicht ausreichend; die Therapie sollte immer „multimodal“ sein.

Zu den multimodalen Therapieoptionen zählen Elternberatung, Elterntraining, kindzentrierte Interventionen (psychologische Betreuung, Psychotherapie, Lernhilfe …), schulzentrierte Interventionen (Schulpsychologie, individuelle Betreuungsperson, eventuell sonderpädagogischer Förderbedarf) sowie die Behandlung von Begleitproblemen.

Elternberatung. Als einen wesentlichen Baustein in der ADHS-Therapie erachte ich die Elternberatung. Dabei geht es um das Erarbeiten der positiven Eigenschaften und Stärken, der besonderen Begabungen des Kindes, „die Kirche im Dorf lassen“, Wegnahme von Schuldgefühlen mit dem Ziel der Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung, sodass die Eltern trotz all der Probleme wieder „stolz auf ihr Kind“ sein können.

Alternative Therapien, die häufig durchgeführt oder versucht werden, umfassen zum Beispiel die oligoantigene Diät, Omega-3-, Omega-6-Fettsäuren (zum Beispiel EQUAZEN™ PRO), Homöopathie, Bachblüten et cetera.

Das Neurofeedback, als EEG-gestütztes Aufmerksamkeitstraining, könnte in der Zukunft eine gute Ergänzung beziehungsweise vielleicht eine Alternative zur medikamentösen Therapie werden.

Medikamentöse Therapie

Für die klassische medikamentöse Therapie stehen einige Substanzen zur Verfügung, vor allem die Amphetamine beziehungsweise Methylphenidat.

Amphetamine beziehungsweise Methylphenidat stimulieren die Ausschüttung und hemmen die Wiederaufnahme von Dopamin und Noradrenalin in den Synapsen. Methylphenidat wurde erstmals 1944 von Leandro Panizzon synthetisiert. Der Name Ritalin® geht auf seine Ehefrau Marguerite („Rita“) zurück, die die Substanz ausprobierte und von der Leistungssteigerung im Tennis beeindruckt war.

Methylphenidat stellt einen wesentlichen Pfeiler in der ADHS-Therapie dar, muss aber natürlich gezielt und wohl auch zurückhaltend eingesetzt werden. Innerhalb der letzten 20 Jahre hat sich der Verbrauch an Methylphenidat in Deutschland und Österreich um das 50-Fache gesteigert!
Methylphenidat wirkt rasch, erzeugt keine Abhängigkeit, führt nicht zu einem verstärkten Suchtverhalten. Trotzdem ist leider weiterhin ein Suchtgiftrezept notwendig, was verständlicherweise viele Eltern abschreckt, dieses Medikament für ihre Kinder zu akzeptieren. Eine wesentliche Nebenwirkung ist die Abnahme des Appetits, vor allem bei ohnehin schon schlanken Kindern.
Methylphenidat steht in retardierter und nichtretardierter Form zur Verfügung (Ritalin®, Medikinet®, Concerta®). Die Dosierung erfolgt einschleichend bis maximal 1 mg pro kg Körpergewicht und Tag.

Amphetamine (die magistrale Zubereitung eines Amphetaminsaftes) scheint bei Kindern unter 6 Jahren wirksamer zu sein als Methylphenidat.

Lisdexamphetamin (Elvanse®) ist eine Prodrug mit Umwandlung in den aktiven Wirkstoff Dexamphetamin im Körper. Ein Vorteil ist die lange Wirkdauer, sodass eine Einmalgabe pro Tag ausreicht. In Österreich sind nur die Stärken 30, 50, 70 mg registriert, in Deutschland auch 20, 40 und 60 mg.

Atomoxetin: Als Alternative zu Methylphenidat, aber auch in Kombination mit Methylphenidat kann Atomoxetin (Strattera®) verwendet werden. Atomoxetin ist ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer und ist eng mit Fluoxetin verwandt. Die Wirksamkeit ist geringer als bei Methylphenidat. Ein wesentlicher Nachteil der Substanz ist der verzögerte Wirkeintritt (wie bei Antidepressiva meist erst nach 3 bis 4 Wochen). Die Dosierung erfolgt einschleichend bis maximal 1,2 mg pro kg Körpergewicht und Tag, in Einmalgabe pro Tag.

Bupropion. Das Antidepressivum Bupropion (Wellbutrin®) ist ein Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer und kann abgesehen von der Raucherentwöhnung auch zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen eingesetzt werden.

Guanfacin. Eine interessante medikamentöse Therapieoption stellt Guanfacin (Intuniv®) dar, das eine große Ähnlichkeit mit Clonidin (Catapressan®) hat. Diese Substanzen sind zentrale Alpha-2-Adrenorezeptor-Agonisten. Intuniv® liegt im Gegensatz zu Catapressan® als Retardtablette vor und braucht nur einmal pro Tag eingenommen werden. In den USA gibt es auch eine retardierte Form von Clonidin ­(Kapvay®).
Guanfacin ist in der medikamentösen Therapie von ADHS nach den Stimulanzien Mittel der zweiten Wahl. Dosierung: Beginn mit 1 mg/Tag, wöchentliche Steigerung bis 0,12 mg pro kg Körpergewicht und Tag. Angeboten werden die Stärken 1, 2, 3 und 4 mg.

 

Auf einen Blick

  • Ein Aufmerksamkeitsmangel mit verstärkter Ablenkbarkeit, Hyperaktivität mit übersteigertem Bewegungsdrang und Impulsivität mit unüberlegtem Handeln sind die Kernsymptome von ADHS.
  • Die Problematik soll früh erkannt werden. Eine eingehende Diagnostik ist notwendig, gegebenenfalls mit Einleitung der entsprechenden Therapien.
  • Die Therapie sollte immer multimodal erfolgen.
  • Eine Elternberatung in der kinderärztlichen oder allgemeinmedizinischen Praxis sollte als zentraler Baustein der ADHS-Therapie integriert sein.