Ängste im Alter

Ein gewisses Maß an Angst und Furcht ist normal und gehört zum menschlichen Dasein und ist als Schutzmechanismus in möglichen Gefahrensituationen notwendig.
Wann werden dann Sorgen, Kummer oder Realängste zu einer Angststörung im Sinne einer behandlungswürdigen Erkrankung?
Ängste und die damit verbundenen Gedanken werden übermächtig, nicht kontrollierbar, nehmen viele Stunden und Tage in Anspruch und werden von den Betroffenen auch oft als irrational erlebt. Die Reaktionen darauf können dann den ganzen Alltag bestimmen und das Leben erheblich einschränken.
Das Wort „Angst” stammt vom griechischen Verb „agchein” und dem lateinischen „angere” ab. Es bedeutet übersetzt „würgen“ oder „die Kehle zuschnüren“, also ein Affekt oder eine Emotion, begleitet von einem körperlichen Empfinden.

Tab. 1: Im Alter gibt es besondere Inhalte, welche die Angststörungen prägen

 

Angst besteht aus 4 Komponenten, die individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können:

  1. die emotionale Seite, im Sinne eines ängstlichen Gefühls und Angsterlebens
  2. die kognitive Seite, eben eine negative Bewertung der Situation
  3. eine Verhaltensreaktion, wie Vermeidung, Flucht oder Konfrontation
  4. die physiologische Seite, wie körperliche Begleiterscheinungen (Beschleunigung von Puls und Atmung, Druckgefühl in der Herzgegend, Zittern, Schwitzen, Mundtrockenheit, Durchfall oder Harndrang).

Epidemiologie

Angsterkrankungen sind sehr häufig; für sie wurde in einer 12-Monats-Prävalenzstudie für psychische Erkrankungen in Europa eine Prävalenz von 14% erhoben.1 Die 12-Monats-Prävalenzraten im Alter schwanken zwischen 0,7 und 10,2%2, und einige Reviews von internationalen Studien zeigen eine Lebenszeitprävalenz von 10–20%.3 Frauen sind 2- bis 3-mal häufiger betroffen als Männer, ein erstmaliges Auftreten im Alter ist eher selten (um 1%); meist beginnen Angststörungen im frühen bis mittleren Erwachsenenalter und werden ins höhere Lebensalter mitgenommen.4

Einteilung von Angststörungen

Im ICD-10, Kapitel V (F) (= Internationale Klassifikation psychischer Störungen) werden Krankheitsbilder wie phobische Störungen, ungerichtete Angststörungen (Panikattacken, generalisierte Angststörung, Angst und depressive Störung gemischt) sowie Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (akute Belastungsreaktion, posttraumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörungen) angeführt. Weiters werden organische Angststörungen, hypochondrische Störungen sowie eine ängstlich vermeidende Persönlichkeit unterschieden.

Im Alter besonders zu berücksichtigen sind Ängste, die schwere körperliche Erkrankungen begleiten, wie kardiovaskuläre Erkrankungen, Lungenerkrankungen (COPD), das Parkinson-Syndrom und demenzielle Erkrankungen oder durch Medikamente ausgelöst und verstärkt werden, wie es bei Sympathomimetika, Bronchodilatatoren, Kortikoiden und Levodopa der Fall ist.
Exemplarisch möchte ich die häufigste Angststörung im Alter anführen, nämlich die generalisierte Angststörung.

Generalisierte Angststörung (GAD)

Diese Form der Angsterkrankung beginnt meist im jungen Erwachsenenalter und kann ins höhere Lebensalter mitgenommen werden; es gibt aber auch Fälle, die erstmals im höheren Alter auftreten.
Gekennzeichnet ist die GAD durch Sorgen und Befürchtungen über künftige Ereignisse, mindestens 3–4 Themenbereiche betreffend, meist anhaltend oder freiflottierend und häufig von körperlichen Symptomen begleitet. In der Folge kann es zu Vermeidungsverhalten und Rückzug kommen.
Inhalte der Sorgen sind: an Erkrankungen zu leiden, die eigene Person oder Angehörige und Freunde betreffend, weiters Gebrechlichkeit, Einsamkeit und Autonomieverlust.
Als Auslöser können Pensionierung, Erkrankungen, Verluste und beginnende kognitive Einschränkungen identifiziert werden. Die Krankheit ist meist durch einen schleichenden Beginn gekennzeichnet, und die Diagnose verlangt eine Beschwerdedauer von 6 Monaten. Subsyndromale Formen sind im Alter eher die Regel als die Ausnahme.
Wenn nicht ausreichend behandelt wird, sind funktionelle Einschränkungen, Verschlechterung der Lebensqualität, stärkere Inanspruchnahme des Gesundheitssystems sowie erhöhte Morbidität die Folge.8

Probleme in der Diagnostik von Angststörungen im Alter

Ängste werden häufig fälschlicherweise als Teil des Alterungsprozesses eingeschätzt und nicht weiterverfolgt. Körperliche Symptome werden oft als Zeichen einer Angststörung fehlinterpretiert, und umgekehrt werden Ängste nur auf körperliche Ursachen reduziert.
Nebenwirkungen von Medikamenten – als mögliche Ursache der Beschwerden – werden nicht ernst genommen. Ein komorbides Auftreten mit Depressionen und Suchterkrankungen erschwert die Diagnostik.

Ursachen der Angstentwicklung

Das Symptom Angst kann als Fehlregulation einer „physiologischen Emotion“ im Rahmen des biopsychosozialen Modells verstanden werden. Diese Fehlregulation kann durch Störung des biologischen Regelmechanismus erfolgen, aber durch fehlgeleitete Lernerfahrungen auch auf psychischer Ebene oder durch äußere soziale Faktoren, die zu einer Überforderung führen.
Bei einer starken „Traumatisierung“, quasi einer „nichtphysiologischen Lernerfahrung“, kommt es nicht nur auf der psychologischen Ebene zu Veränderungen, sondern auch auf der biologischen Ebene zu einer Störung des Angstregulationssystems (z. B. Hippocampusatrophie).
Die Schaltstelle im Gehirn, in der Angst verarbeitet und verknüpft wird, ist die Amygdala. Die Verbindung zum Hippocampus ermöglicht die Vernetzung und Kontrolle im Lern- und Gedächtniszentrum, der Hypothalamus stellt die Verbindung zur Stressachse dar und damit zu den körperlichen Reaktionen der Angst.
Es werden Vulnerabilitäten diskutiert, wie mögliche genetische Veranlagung für ein labiles autonomes Nervensystem oder auch eine starke kortikale Erregbarkeit, als körperliches Entgegenkommen bei Angststörungen. Zahlreiche Neurotransmittersysteme sind an der Angstentstehung im Gehirn beteiligt. Dazu zählen das serotonerge, das glutaminerge und das GABAerge System, welche die medikamentösen Angriffspunkte zur Behandlung ermöglichen.

Psychologische und therapeutische Konzepte

Als weitere Erklärung für die Entstehung von Angststörungen wurden psychologische und psychotherapeutische Konzepte entwickelt.

Aus psychoanalytischer Sicht hat der Angstaffekt eine Signalfunktion. Im Konfliktmodell (Freud, 1926) wird angeführt, dass eine äußere Bedrohung symbolisch für eine innerpsychische, unbewusste Bedrohung steht. Durch einen äußeren Auslöser (etwa eine „Versuchungs-/Versagungssituation”) wird ein intrapsychischer Konflikt angestoßen. Die damit verbundene Angst kann nicht abgewehrt werden und ist dann eine neurotische Symptombildung.
Ein anderes Modell spricht davon, dass negative Kindheitsbelastungen eine seelische Empfindsamkeit und Verletzbarkeit verursachen und dadurch im Erwachsenenleben zu Angsterkrankungen prädisponieren (Bolwby, 1976).

Die Lerntheorie besagt, dass viele Ängste im Laufe des Lebens durch individuelle Lernprozesse entstehen, aber durch Lernprozesse auch wieder abgebaut werden können.
Die Erklärung für diesen erfahrungsbedingten Einfluss auf die Angst sind Konditionierungen, also das Lernen, auf Reize zu reagieren und das instrumentelle Lernen von Abwehrreaktionen. Mithilfe der lerntheoretischen Ansätze kann man vor allem erklären, wie eine Phobie entsteht. Zunächst „erlernt” eine Person die Angst vor einer ehemals neutralen Situation. Man nimmt an, dass ein mehrstufiger Prozess zu einer Phobie führt. So wird eine Flugangst manifest, wenn einmal Angst beim Fliegen erlebt wird und das folgende Vermeiden eines weiteren Fluges zur Konditionierung führt und mit Angstfreiheit „belohnt“ wird.
Die Lerntheorie kann auch erklären, warum es im Zusammenhang mit Panikstörungen zu Erwartungsängsten kommt. Tritt eine Panikattacke wiederholt auf, bekommt die Person Angst vor weiteren Attacken, es entsteht eine Angst vor der Angst.

Systemische Modelle besagen, dass Panikattacken als Endprodukt einer symmetrischen Eskalation zwischen Wut und Angst in einer Beziehung verstanden werden können.
Ihre eskalierende Dynamik wird durch das Auftreten einer Panikattacke gestoppt.
Die vorher noch so bedrohliche Wut wird dissoziiert und damit aufgelöst, der Partner idealisiert.
Grundkonflikt besteht im Dilemma zwischen Streben nach Autonomie und dem Wunsch nach Beziehung und Sicherheit.

Risikofaktoren für die Entwicklung von Angsterkrankungen

Als Risikofaktoren für die Entwicklung von Angststörungen im Alter werden aus Studien folgende Aspekte beschrieben: weibliches Geschlecht, schwere körperliche Erkrankungen, allein lebend, geschieden oder verwitwet zu sein, niedrigere Schulbildung, subjektive gesundheitliche Beeinträchtigung, negative Lebensereignisse („stressful“), körperliche Einschränkungen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens und negative Kindheitserlebnisse.4

Behandlung von Angststörungen

Als Basisbehandlung steht nach wie vor das ärztliche Gespräch und die Beratung im Mittelpunkt, um psychosoziale und/oder somatische Belastungsfaktoren zu identifizieren. Zu Beginn der Behandlung können psychosoziale Maßnahmen, Entspannungstechniken und Unterstützung in einer Selbsthilfegruppe sowie eine begleitende milde medikamentöse Therapie ausreichen. Bei anhaltenden oder immer wiederkehrenden Ängsten ist die Einleitung einer psychotherapeutischen Behandlung mit begleitender Pharmakotherapie indiziert. Die medikamentöse und psychotherapeutische Kombinationstherapie ist am effektivsten (Tab. 2).

Tab. 2: Behandlung von Angststörungen

 

Zur Psychotherapie

Ältere und alte Menschen sind bezüglich ihrer Erwartungen an die Psychotherapie pragmatischer und zielorientierter. Im Mittelpunkt steht subjektives Wohlbefinden, Funktionsfähigkeiten zu verbessern und zu erhalten sowie soziale Beziehungen zu stärken.

Aus psychoanalytischer und psychodynamischer Sicht geht es um Aufarbeitung bzw. Lösung unbewusster Konflikte, etwa durch Bearbeitung verinnerlichter ungelöster Beziehungskonflikte bei der generalisierten Angststörung oder der sozialen Phobie. Das Ziel bei der Behandlung von traumatischen Erlebnissen ist eine Verbesserung der Ich-Funktionen und des Selbstwertgefühls.

Die kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungskonzepte beinhalten psychophysiologische, lernpsychologische und kognitive Ansätze. Die kognitive Verhaltenstherapie bei generalisierter Angst fokussiert auf den Abbau vegetativer Übererregung, von Vermeidungsverhalten und auf die Problem- und Konfliktbewältigung.

Die Reminiszenz- oder Lebensrückblicktherapie ermöglicht, durch ein besseres Verständnis für die Zusammenhänge und Auswirkungen von Lebenserfahrungen, eine subjektive Erweiterung der Perspektive mit dem Entdecken von zahlreichen nützlichen Ressourcen.8

Zur medikamentösen Therapie5, 6

In der Behandlung von Angststörungen werden Antidepressiva wie SSRI (im Alter vor allem Citalopram, Escitalopram, Sertralin), SNRI (Venlafaxin, Duloxetin) sowie Trazodon und Mirtazapin eingesetzt.
Benzodiazepine (Lorazepam, Oxazepam, Alprazolam) wirken über das GABAerge System und sollten in der Akutphase, dann weiter nur kurzzeitig eingesetzt werden, um eine Gewöhnung zu verhindern. Im Alter besteht bei Benzodiazepinen zusätzlich die Gefahr der kognitiven Verschlechterung und eine Sturzgefahr.
Eine weitere wichtige Substanz in der Angstbehandlung ist Pregabalin, das die glutaminerge Neurotransmission über spannungsabhängige Kalziumkanäle moduliert.7

Zusätzliche Substanzen, die Ängste reduzieren können und sich in der Praxis bewährt haben, sind Antihistaminika (Hydroxyzin), die jedoch bei älteren Patient:innen wegen einer Sturzgefahr mit Vorsicht anzuwenden sind, sowie das Anxiolytikum (Buspiron), Beta-Blocker, Quetiapin und Risperidon in niedriger Dosierung.
Immer beliebter, auch im Alter besser verträglich und in den Interaktionen mit anderen Medikamenten sicherer, sind Phytopharmaka in der Angstbehandlung.
Zum Beispiel Passionsblumenkraut (wirkt über GABA-Rezeptoren), Johanniskraut (wirkt über Serotonin-, Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahme) und Lavendelöl (wirkt über präsynaptische Kalziumkanäle).

Bei Demenz: Patient:innen mit demenziellen Erkrankungen äußern ihre Ängste häufig in Verhaltensstörungen (BPSD) und benötigen eine gezielte Behandlung; es werden Antidepressiva, Pregabalin und Ginkgo biloba EGb 761® erfolgreich eingesetzt.

Resümee

Angststörungen im Alter werden oft nicht erkannt und nicht ausreichend behandelt. Die psychotherapeutische und medikamentöse Behandlung ist allerdings genauso erfolgreich wie bei Patient:innen in jüngeren Jahren.