Ärzte im Einsatz für Flüchtlinge: Ein bewegendes Stimmungsbild

Niemand weiß derzeit, wann der Zustrom von Flüchtlingen nach Österreich zu Ende geht. Und damit auch der unermüdliche Einsatz vieler Ärzte, die den Flüchtlingen ehrenamtlich zur Verfügung stehen. So auch Dr. Gerhard Payrich, Arzt für Allgemeinmedizin in St. Andrä am Zicksee, Bezirk Neusiedl/See. Er hat sich bereits vor vier Monaten, als die Flüchtlingsbetreuung des Roten Kreuzes im Bezirk Neusiedl am See startete – damals noch in kleinerem Rahmen –, als Arzt engagiert und an vielen Tagen an den Betreuungsstellen „vorbeigeschaut“, um ärztliche Behandlungen kostenlos vorzunehmen. Nach wie vor unterstützt er die Betreuerteams tatkräftig und hat erst kürzlich unter seinen Kollegen in der burgenländischen Ärzteschaft Geldspenden für Medikamente für Flüchtlinge gesammelt. Payrich über seine Erfahrungen: „Meine Erfahrungen mit den Flüchtlingen sind ausgesprochen positiv. Ich habe viele freundliche, offene und sehr dankbare Menschen kennengelernt. Natürlich waren viele von ihnen von der Flucht gezeichnet. Medizinisch gesehen waren es aber meistens ‚Kleinigkeiten‘, die wir versorgen mussten. Ich durfte bei der Betreuung von Flüchtlingen in Nickelsdorf von Anfang an mit dabei sein – bereits etwa zwei Monate vor dem Zeitpunkt, als plötzlich Massen an Flüchtlingen kamen. Damals war alles noch überschaubarer, kleiner – aber gleichzeitig stand natürlich auch weniger Infrastruktur zur Verfügung. So mussten wir oftmals improvisieren. Mein Kollege Dr. Luc Bastian und ich versuchen, einmal täglich vorbeizuschauen, um die Sanitäter des Roten Kreuzes zu unterstützen. Das hat eigentlich sehr gut geklappt. Alle Patienten, welche die Sanitäter nicht selbst ausreichend versorgen konnten, deren Behandlung aber nicht dringend war, wurden auf die abendliche ‚Arztstunde` vertröstet. Dieses Angebot haben sie dankend angenommen.“
Beeindruckend ist für Payrich, wie sich die medizinische Versorgung vor Ort entwickelt hat: „Anfangs haben wir improvisiert. Die Rotkreuz-Sanitäter verständigten uns telefonisch, wenn wir vor Ort gebraucht wurden, oder wir kamen möglichst jeden Tag ca. eine Stunde vorbei. Die Versorgung wurde in einem Ambulanzcontainer des Roten Kreuzes absolviert. Es gab Verbandsmaterial, einfache Diagnostikinstrumente und auch einiges an Medikamenten. Trotzdem gab es immer wieder Fälle, in denen ich froh war, meine Arzttasche mit dabeizuhaben. Wir waren damals auch nur zu zweit: Luc Bastian und ich. Mit der Zeit ist es Luc und mir gelungen, auch einige Kollegen für diese Arbeit zu gewinnen. Praktische Ärzte aus der Umgebung boten ebenfalls ihre Unterstützung an, und so konnten wir damit beginnen, einen eigenen Ärztedienstplan zu erstellen.“

Der große Ansturm

Und dann kam der große Ansturm: „Quasi von heute auf morgen erhielt alles eine ganz andere Dimension. Von anfangs 50 oder 100 Flüchtlingen täglich hatte sich die Zahl auf ca. 300 oder 400 eingependelt. Und nun kamen plötzlich 10.000 an einem Tag. Am Spitzentag waren es sogar 15.000. Man kann sich vorstellen, dass man da alleine, ausgerüstet mit einer Arzttasche und einer großen Portion gutem Willen, nicht viel ausrichten kann. Das Rote Kreuz Burgenland baute sein PHC-Zelt (Primary Health Care) auf, eine sternförmige Zeltanlage, die es erlaubt, die Patienten im Eingangstrakt zu triagieren und dann in die entsprechenden Behandlungstrakte aufzuteilen.“ Nun kam auch zahlreiche Unterstützung aus der Ärzteschaft: Die Krages (Burgenländische Krankenhausgesellschaft) stellte ärztliches Personal zur Verfügung, auch vom Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Eisenstadt wurden Kollegen entsandt, und dazu kamen noch freiwillige Ärzte, die ihre Dienste spontan anboten. „Das war eine gute und schöne Zusammenarbeit. Und uns wurde definitiv nicht langweilig. Für mich selbst war es ein Wechselbad der Gefühle. Natürlich ist man betroffen von all dem Leid, von der Verzweiflung. Was müssen diese Menschen erlebt haben, dass sie diese Strapazen auf sich nehmen? Was müssen sie alles durchgemacht haben, dass sie für ein bisschen Essen und eine ärztliche Schnellbehandlung so dankbar sind? Dieses Gefühl der Verzweiflung ist natürlich auch an mir nicht spurlos vorübergegangen. Gleichzeitig war es für mich aber auch ein berührendes positives Erlebnis, das Engagement und die Motivation der Helfer zu sehen. Ich empfand es nicht nur als meine Pflicht, hier unentgeltlich zu helfen, sondern es war mir auch eine Ehre, mit all diesen engagierten Menschen zusammenzuarbeiten. Die freundliche Art, wie Rotkreuz-Helfer die Menschen begrüßt und betreut haben, die gute Zusammenarbeit zwischen den Einsatzorganisationen und so manches emotionale Gespräch mit Kollegen werden mir immer in Erinnerung bleiben. In meiner ganzen Laufbahn als Arzt habe ich mich selten so gebraucht gefühlt wie hier. Es war berührend, zu sehen, was ich allein durch meine Anwesenheit und durch ganz basale medizinische Behandlungen bei den Flüchtlingen auslösen konnte.“ Am häufigsten mussten typische „Fluchtbeschwerden“ behandelt werden – zwar nicht besonders gefährlich, aber schmerzhaft und lästig. Viele Flüchtlinge haben weite Teile ihrer Flucht zu Fuß zurückgelegt. Dementsprechend sahen ihre Füße auch aus, vor allem Blasen an den Füßen. Dann gab es auch Schürfwunden und andere mechanische Wunden, Hals- und Kopfschmerzen, Dehydration. Mit dem Ende des Hochsommers kamen auch Erkältungen, Schnupfen und Husten hinzu. Payrich: „Außerdem stieg mit der Zeit die Zahl der Kinder und Frauen an – bei Letzteren gab es auch das eine oder andere Mal gynäkologische Indikationen. Unter den Flüchtlingen gab es auffallend viele schwangere Frauen. Durch die Strapazen der Flucht und die damit einhergehende Erschöpfung war es auch keine Seltenheit, dass Frauen beim Anstellen für Busse kollabierten. Schließlich entschieden wir uns sogar dafür, einen Rettungswagen mit zwei Sanitätern – und bei Verfügbarkeit einem Arzt – direkt neben die Warteschlange zu stellen, um vor Ort allfällige medizinische Notfälle behandeln zu können.“ Eine Zeit lang gab es auch Durchfallerkrankungen, die wohl auf die hygienischen Bedingungen während der Flucht zurückzuführen sind. „Eigentlich haben wir von der Herzkrankheit über den Diabetiker bis hin zum Pseudokrupp alles (erst-)behandelt“, so Payrich.

Erweiterte Erste Hilfe

Zur Frage nach dem Equipment meint er: „Grundsätzlich muss hier gesagt werden, dass wir vor Ort sozusagen erweiterte Erste Hilfe angeboten haben. Es war niemals Ziel, eine stationäre Aufnahme in Nickelsdorf anzubieten. Dafür waren die Kapazitäten unzureichend und das Krankenhaus Kittsee zu nah. Es kam also durchaus auch vor, dass wir uns dafür entschieden, den einen oder anderen Patienten in ein Krankenhaus zu überstellen, wo er sich über mehrere Tage in Ruhe von seiner Erkrankung erholen konnte. Im PHC standen uns dann wesentlich mehr Ressourcen zur Verfügung. Die Patienten wurden auf Feldbetten gelegt. Neben einem diagnostischen Standardinstrumentarium (RR, SpO2, Blutzucker, EKG usw.) verfügten wir über eine breite Auswahl an Medikamenten. Wir Ärzte hatten im Vorfeld eine detaillierte Liste von Medikamenten erstellt. Diese wurden vom Roten Kreuz zentral eingekauft, und auch viele Ärzte brachten das eine oder andere Medikament mit. Zu Spitzenzeiten arbeiteten im PHC fünf oder sechs Ärzte und ca. 20 Sanitäter. Da hatten wir alle Hände zu tun. Gefehlt hat aus meiner Sicht eigentlich nichts. Und wenn wir etwas brauchten, schrieben wir es auf unsere ‚Wunschliste‘, und es wurde organisiert. Die Ausrüstung dieses kleinen ‚Feldspitals‘ wurde den Ärzten überlassen, da hat sich das Rote Kreuz ganz auf unsere Fachmeinung verlassen.“
Auch Notarzt und Tropenmediziner Dr. Michael Kühnel ist von Anfang an dabei, er ist einer jener Ärzte, der seit der ersten Stunde im Advanced Medical Post (AMP) in Traiskirchen tätig ist. Hier werden Flüchtlinge von Rotkreuz-Mitarbeitern aus ganz Österreich medizinisch betreut. Seine Erfahrung: „Der Einsatz vor Ort ist eine unvergessliche und prägende Erfahrung. Als wir am ersten Tag das Lager aufstellten, kamen viele aus Neugier zu uns. Am selben Abend versorgten wir 55 Patienten, die hauptsächlich an ‚harmlosen‘ Beschwerden wie Kopfweh litten. Unsere Stammkunden kommen nun täglich zum Verbandwechsel, für Schwangere hat sich eine Gruppe von Kinderärzten gefunden, die regelmäßig das Lager aufsucht. Viele Flüchtlinge leiden an Schlafstörungen und sind psychisch sehr stark belastet. Alles Wichtige ist immer vorhanden; wir haben uns an die Basismedikation adaptiert. Die Zusammenarbeit mit dem medizinischen Dienst vor Ort und der medizinischen Infrastruktur läuft hervorragend. Die Herausforderung, so viele Menschen zu betreuen, lässt sich nur gemeinsam als professionelles, engagiertes und gut eingespieltes Team bewältigen.“

 

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Keine Vorstellung von der Not

In der Südsteiermark war Dr. Peter Sigmund, Arzt für Allgemeinmedizin, im südsteirischen Gamlitz im Einsatz. Sigmund ist außerdem als Notarzt im Landeskrankenhaus in Wagna und ehrenamtlich als Rotkreuz-Bezirksstellenleiter im Bezirk Leibnitz tätig. Erfahrungen im Zusammenhang mit Flüchtlingshilfe hatte er zuvor noch nicht gesammelt. „Als Rotkreuz-Mitarbeiter liegt es für mich aber in meinem Selbstverständnis, in der gegenwärtigen Situation ehrenamtliche Hilfe als Arzt in der Flüchtlingssammelstelle in Spielfeld zu leisten.“ Sigmund baute gemeinsam mit Dr. Anton Wankhammer und Dr. Wolfgang Walther ein permanentes Rufbereitschaftssystem für ärztliche Flüchtlingshilfe im Bezirk Leibnitz auf und war maßgeblich daran beteiligt, geregelte Ambulanzstunden in der Sammelstelle einzurichten (täglich von 8 bis 9 Uhr bzw. von 19 bis 20 Uhr).
Wie hat er den Einsatz erlebt? „Bevor man die Not nicht sieht, kann man sich von ihr keine Vorstellung machen. Natürlich versucht man sich gedanklich darauf vorzubereiten, aber mit der Realität und den realen Empfindungen hat das dann doch nur wenig gemein. Vor meinem ersten Einsatz war ich beispielsweise nervös, gerade die große Anzahl der Hilfsbedürftigen bereitete mir Sorgen. Als ich dann aber vor Ort war und die Menschen vor mir sah, spürte ich nichts mehr von alldem. Stattdessen war ich ehrlich überwältigt von diesem unbeschreiblich positiven Gefühl – so vielen Menschen so unmittelbar zu helfen, das ist kaum zu beschreiben oder vorzustellen, das muss man erleben.“
Die Flüchtlinge reagierten auf die ärztlichen Unterstützungsdienste zutiefst dankbar. „Gleichzeitig darf ich an dieser Stelle aber auch die Dienste unserer Dolmetscher hervorheben. Sie waren und sind es, die den Menschen nach den unglaublichen Reisestrapazen Ängste nehmen, sie bei uns willkommen heißen und die Kommunikation auch zu uns Ärztinnen und Ärzten sicherstellen. Zum überwiegenden Teil sind diese Dolmetscher übrigens selbst Asylansuchende, die sich im Bezirk ehrenamtlich engagieren, auch das darf nicht ungesagt bleiben. Ohne sie wären unsere medizinischen Versorgungsleistungen praktisch nicht möglich.“
Sigmund betont die Wichtigkeit guter Organisation: „Ganz entscheidend für die erfolgreiche Durchführung einer solchen Ausnahmesituation ist es, alle vorhandenen Mittel zu kanalisieren und ihren Abruf planbar zu machen. Viele Menschen wollen gerne helfen, auch im medizinischen Bereich. Mindestens genauso wichtig wie diese Bereitschaft ist es aber auch, diese Hilfsleistungen zu organisieren und zu strukturieren. Das ist uns im Bezirk Leibnitz zum Glück und dank dem großartigen Engagement so vieler Kolleginnen und Kollegen hervorragend gelungen. Unsere Dienstpläne zur Flüchtlingshilfe sind über Wochen hinweg bereits ausgearbeitet.“
In Wien war Dr. Maria-Luise Öhl am Bahnhof im Einsatz. Sie schildert: „Es waren sehr viele Menschen, die eine schnelle Behandlung wollten, um rasch weiterreisen zu können. Hauptbeschwerden waren Verkühlung und wunde Füße, unter anderem auch Unterernährung, Folgen von zu wenig Trinken und großen Strapazen. Für die Behandlung von seelischem Leid war weder Zeit noch Möglichkeit, bzw. die Flüchtlinge haben das nicht erwartet, weil sie schnell weiterwollten. Bei einigen war eine Spitalseinweisung notwendig. Equipment und Team waren hervorragend. Die Übersetzer haben sehr viel zum Gelingen beigetragen und viel geleistet. Was fehlt, ist vor allem Privatsphäre für die Patienten. Ich habe den Einsatz als äußerst berührend und wichtig erlebt.“

 

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Wiener Ärztinnen und Ärzte helfen ehrenamtlich

In Wien finden derzeit täglich Tausende Flüchtlinge Zuflucht in improvisierten Erstaufnahmezentren oder Bahnhöfen. Was diese Menschen – neben Nahrung, Kleidung und einem sicheren Schlafplatz – wirklich benötigen, ist vor allem eine rasche und unkomplizierte medizinische Grundversorgung. Die medizinische Soforthilfe der ankommenden Menschen ist an vielen Orten durch bestehende Strukturen, beispielsweise das Sanitätsteam Wien, die Wiener Berufsrettung und ein Netz an freiwilligen Helfern, sichergestellt. Doch die derzeitige Ausnahmesituation erfordert zusätzliche Schnittstellen. Hier kommt die Initiative „Medical Aid for Refugees“ ins Spiel. Bei Lücken in der Gesundheitsversorgung dient die Initiative als Bindeglied, um ehrenamtliches medizinisches Personal mit den Hilfsorganisationen zu vernetzen. Die Wiener Ärztekammer organisiert die zentrale Verwaltung und stellt die Ärzteliste anderen Hilfsorganisationen zur Verfügung. Jene greifen darauf je nach Bedarf zu. Seit einem Aufruf der Ärztekammer unter allen Wiener Ärztinnen und Ärzten haben sich bereits mehr als 400 Ärztinnen und Ärzte zur freiwilligen Unterstützung von Flüchtlingen gemeldet.

Seit der Geburtsstunde von „Medical Aid for Refugees“ waren die Kolleginnen und Kollegen sowohl im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen und Nickelsdorf sowie in der sich dort befindlichen Novarock-Halle, am Festivalgelände Wiesen, am Westbahnhof sowie im Dusikastadion Wien tätig. Sie leisten jenen Menschen, die erschöpft und krank in den Lagern ankommen, rasch medizinische Hilfestellung – natürlich in ihrer Freizeit. Bei den am häufigsten auftretenden gesundheitlichen Problemen handelt es sich um leichte Infektionen wie Erkältungserkrankungen sowie Atemwegs-, Haut- und Harnwegsinfektionen. Außerdem stehen die Menschen unter enormen psychischen Belastungen, da sie seit Wochen und teils sogar Monaten auf der Flucht sind. Akute Notfälle werden in die umliegenden Krankenhäuser gebracht.

Ein herzliches Dankeschön gilt all jenen vielen Kolleginnen und Kollegen, die im Zuge des Aufrufs spontanes Engagement gezeigt haben, und auch jenen, die in den letzten Tagen und Wochen eigenständig Privatinitiativen gegründet haben, um Flüchtlinge zu behandeln.

ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres
Präsident der Ärztekammer für Wien