Eine neue Studie der Medizinischen Universität Wien sorgt für Aufregung in der Ärzteschaft, denn: Die aktuell im British Medical Journal veröffentlichte Metaanalyse der MedUni Wien um Studienleiterin Univ.-Prof.inDDr.in Eva Schernhammer, Leiterin der Abteilung für Epidemiologie, und ihre Kollegin und Erstautorin Mag.a Claudia Zimmermann zeigt, dass die Suizidrate unter Ärzt:innen zwar rückläufig ist, jene von Ärztinnen aber nach wie vor schockierend weit über jener der Allgemeinbevölkerung liegt. Genauer gesagt zeigen Daten aus 20 Ländern und 39 Studien, dass das Suizidrisiko für Ärztinnen ganze 76 % über jenem der Allgemeinbevölkerung liegt, während jenes der Ärzte nicht erhöht war. Die Ärztekammer Wien spricht dazu von „alarmierenden Zahlen“. „Wir können nicht hinnehmen, dass Ärztinnen im Vergleich zur Allgemeinheit einem derart hohen Suizidrisiko ausgesetzt sind“, sagt OMR Dr. Johannes Steinhart, Präsident der Wiener und Österreichischen Ärztekammer.
Auch für Dr.in Naghme Kamaleyan-Schmied, Vizepräsidentin und Obfrau der Kurie des niedergelassenen Bereichs der Ärztekammer für Wien, sind die Studienergebnisse erschreckend. „Die Zahlen zeigen, unter welchem massiven Druck unsere Kolleg:innen stehen“, meinte Kamaleyan-Schmied. „Die Arbeitsbedingungen sind aufgrund der jahrzehntelangen Unterfinanzierung des Gesundheitssystems unzumutbar geworden: massiver Zeitdruck, der Zwang zu Fließbandmedizin sowie eine Verschlechterung der Rahmenbedingungen durch Personalmangel, fehlende Medikamente und enormen Bürokratieaufwand. Dies alles kann zu Frustration, Erschöpfung, Depression und im schlimmsten Fall zu Suizid führen.“ Ärzt:innen, egal welchen Geschlechtes, würden sich für ihren Beruf entscheiden, um Menschen zu helfen. Das können sie laut der Vizepräsidentin aber aufgrund der erschwerten Bedingungen immer weniger. „Die Mängel im System gleichen Ärzt:innen durch Eigenengagement aus und arbeiten bis zur völligen Selbstaufopferung. Ein krankes System macht krank“, betonte Kamaleyan-Schmied.
Eine aktuelle Umfrage des Nachrichtenkanals RELATUS MED zeigt ein ähnliches Stimmungsbild: Eine schockierend hohe Anzahl an Ärzt:innen in Österreich steht unter hoher Belastung und kämpft mit unterschiedlichen Erschöpfungssymptomen. 85,5 % sagten, dass sie sich im Berufskonzept in jüngster Zeit überlastet oder überfordert gefühlt hätten. 94,5 % klagen deshalb über Erschöpfung, 70,9% über Schlafstörungen. „Wir appellieren an alle Kolleg:innen, die unter psychischen Belastungen leiden, sich Unterstützung zu holen. Rasch und unbürokratische Hilfe erhalten Ärzt:innen über die Beratungsstelle ‚Physicians Help Physicians‘ des Referates für psychosoziale, psychosomatische und psychotherapeutische Medizin der Ärztekammer für Wien“, fügte Kamaleyan-Schmied hinzu.
Die Beratungsstelle gibt es seit 2020, und diese wird laut Angaben der Wiener Ärztekammer „gut an- und regelmäßig in Anspruch genommen“. Mit „Physicians Help Physicians“ möchte die ÄK Wien „rasche unbürokratische Hilfe“ für Ärzt:innen bieten, die Beratung kann dabei kostenfrei „und niederschwellig“ in Anspruch genommen werden. Erfahrene Ärzt:innen mit psychotherapeutischer Ausbildung und Erfahrung aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen, sowohl aus dem niedergelassenen als auch dem angestellten Bereich, stehen dafür zur Verfügung. Der Beratungsprozess kann persönlich, telefonisch oder online erfolgen. „Selbstverständlich wird jedes Anliegen vertraulich behandelt und unterliegt der Schweigepflicht“, heißt es von der Ärztekammer Wien.
Eine Entlastung der Ärzt:innen könne laut DIinDr.in Natalja Haninger-Vacariu, Vizepräsidentin und Kurienobfrau des angestellten Bereichs der Ärztekammer für Wien, „nur durch Personalaufstockung, bessere Infrastruktur und gelebte Delegierbarkeit von nichtärztlichen Tätigkeiten, geregelte Ausbildungszeiten und Ausbildungsbedingungen sowie mehr Wertschätzung erfolgen“. „Wir wissen aus eigenen repräsentativen Erhebungen aus dem Spitalsbereich, dass sowohl körperliche als auch emotionale Erschöpfung stark zunehmen und ein großes Problem darstellen. Hinzu kommt auch die erschreckende Erkenntnis, dass sich viele alleingelassen fühlen und das Personal aufgrund der bereits bestehenden Lücken in vielen Bereichen unter hohem Zeitdruck mit reduzierter Manpower arbeiten muss“, mahnt Haninger-Vacariu. Die von ihr genannten Maßnahmen seien daher „dringend umzusetzen“, um den zunehmenden Druck „zukünftig auf mehrere Schultern abzuleiten, um dadurch die Belastung des Einzelnen zu reduzieren. Damit können wir uns gegenseitig wieder unterstützen und mehr Awareness schaffen“, betonte Haninger-Vacariu. Nicht nur die Ärztekammer, auch das Forschungsteam der Studie der MedUni Wien fordert weitere Anstrengungen bei der Erforschung und Verhütung des ärztlichen Suizides – insbesondere bei Ärztinnen. Die Wissenschafter:innen weisen außerdem darauf hin, dass es künftige Forschungsarbeiten braucht, um etwaige Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Suizidrate bei Ärzt:innen in aller Welt zu bewerten.
Die Forschungsarbeit der MedUni Wien brachte allerdings nicht nur schlechte Nachrichten: Die Wissenschafter:innen untersuchten für die Metastudie zwei Beobachtungszeiträume (1935–2020 und 1960–2020) – die Analyse der zehn neuesten Studien im Vergleich zu älteren Studien ergab, dass die Suizidrate sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Ärzt:innen im Laufe der Zeit zurückgegangen ist. Die Rate bei Medizinerinnen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung war allerdings weiterhin signifikant erhöht (24 % höher). Die genauen Ursachen für den Rückgang sind nicht bekannt, aber eine stärkere Sensibilisierung für psychische Gesundheit und die Unterstützung von Ärzt:innen am Arbeitsplatz in den vergangenen Jahren könnten eine Rolle gespielt haben, vermuten die Autor:innen. Ärztekammer-Präsident Steinhart sieht hier die Politik in der Verantwortung, „noch stärker als bisher“ anzusetzen, damit Ärztinnen „aus dieser Gefahrenzone herauskommen“. Denn: „Jene, die unser solidarisches Gesundheitssystem jeden Tag am Laufen halten, dürfen nicht die Leidtragenden dieses Systems sein“, appellierte Steinhart.