Anaphylaktische Reaktionen sind potenziell gefährliche allergische Reaktionen, bei denen nachweislich (mittels Labor- und/oder Hauttestung) spezifische IgE-Antikörper ursächlich beteiligt sind, die sich gegen eigentlich nicht gefährdende Stoffe, die Allergene (z. B. Insektengifte, Medikamente), richten. Sie gehören zu den Typ-I-allergischen Reaktionen, die typischerweise recht schnell, meist binnen Minuten bis zu etwa 1/2 Stunde, sehr selten erst Stunden nach Kontakt mit dem Allergen, auftreten. Sind keine spezifischen IgE-Antikörper nachweisbar, werden gleichartige Reaktionen als „anaphylaktoid“ bezeichnet. Typischerweise wurden vorherige Kontakte des Allergens mit dem Immunsystem problemlos toleriert. Die schwerste Form einer solchen anaphylaktischen Reaktion ist der anaphylaktische Schock, der im schlimmsten Fall mit einem Herz-Kreislauf-Stillstand einhergehen kann. Deshalb ist es bei Verdacht auf eine solche anaphylaktische Reaktion sehr wichtig, den etwaigen Ursachen auf die Spur zu kommen. Dazu bedarf es zuerst und vor allem einer akribisch genauen Anamnese. Erst wenn diese klar umrissen ist, sucht man den sich aus der Anamnese ergebenden Verdacht mittels Haut- und Bluttest zu bestätigen.
Mögliche Auslöser von anaphylaktischen Reaktionen können Insektenstiche (siehe unter „Insektenstichreaktionen“), Nahrungsmittel, Medikamente, im Grunde jegliche Substanzen sein. In einem internationalen Register vorwiegend deutschsprachiger Länder wurden als häufigste Auslöser bei Erwachsenen Insektengifte vor Medikamenten vor Nahrungsmitteln identifiziert, bei Kindern Nahrungsmittel vor Insektengiften naturgemäß vor Medikamenten. Bei 6 bzw. 7 % lässt sich kein spezifischer Auslöser finden („idiopathische Anaphylaxie“). Je nach Allergen sind die verfügbaren Testsysteme (Hauttest und Labor) verschieden nützlich bzw. verlässlich: bei Insekten sehr gut, bei Nahrungsmitteln gut, sehr schlecht hingegen bei den meisten Medikamenten (nur wenige Medikamentengruppen, z. B. Penicilline und Narkosemittel, lassen sich mittels Labor- und Hauttestung relativ gut abklären). Bei Allergenen handelt es sich fast ausschließlich um Proteine, sehr selten Kohlenhydrate („anstrengungsinduzierte anaphylaktische Reaktionen“, z. B. gegen Omega-5-Gliadin in Weizen oder gegen Alpha-Gal in rotem Fleisch). Bei diesen zuletzt angesprochenen Anaphylaxien kommt ein Umstand besonders deutlich zur Geltung, nämlich dass auch bei vielen anderen anaphylaktischen Reaktionen oft nicht nur das Allergen allein auslösend wirkt, sondern zusätzlich weitere, sogenannte „Kofaktoren“ für die tatsächliche Auslösung wichtig sind. Solche Kofaktoren sind neben Anstrengungen vor allem auch Stress und Infektionen und manche Medikamente. So lässt sich gut erklären, warum der betroffene Patient einmal auf z. B. rotes Fleisch oder Insektengift reagiert, das nächste Mal aber vielleicht nicht.
Anaphylaktische Symptome reichen von Urtikaria und Ödemen über gastrointestinale Symptome bis zu Kreislauf- und Atembeschwerden und im schlimmsten Fall Atem- und Kreislaufstillstand. Es gibt mehrere, auch internationale Versuche, eine klare Gradeinteilung bzw. eindeutige Zuordnung von anaphylaktischen Symptomen zu etablieren, alle diese Versuche scheitern aber letztendlich an der Tatsache, dass die jeweiligen Symptome auch ohne Zusammenhang mit einer anaphylaktischen Reaktion beobachtet werden können, es andererseits jedoch auch Anaphylaxien gibt, die nicht notwendigerweise mehrere dieser Symptome hervorrufen und sich z. B. nur mit Atemnot oder nur mit Schwindel als Folge einer Kreislauffehlregulierung äußern können. Treten die Atemnot und/oder der Schwindel gleichzeitig mit einer Urtikaria auf, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine anaphylaktische Reaktion aufgetreten ist, sehr hoch. Auch der Nachweis einer Erhöhung der mastzellspezifischen Tryptase (v. a. im Vergleich zum Wert im Intervall) ist ein sehr nützliches diagnostisches Kriterium, das z. B. bei der Abklärung von intraoperativen anaphylaktischen Ereignissen wertvolle Dienste in der Differenzialdiagnostik leisten kann (wenn zu diesem Zeitpunkt bestimmt).
Unbedingt sollten Patienten, die auf Insektenstiche und auf Nahrungsmittel reagiert haben, zur Selbstbehandlung etwaiger zukünftiger neuerlicher Reaktionen mit einem Notfallset ausgerüstet sein. Dieses besteht meist aus Kortison- und Antihistamintabletten, am wichtigsten ist jedoch ein Adrenalinautoinjektorpen, dessen Gebrauch mit jedem Patienten, dem er verschrieben wird, geübt werden sollte. In Österreich stehen nur Pens mit 150 und mit 300 µg zur Verfügung (Tab. 1, Tab. 2, Informationen auch in der kürzlich erschienenen S2k-Leitlinie zu Akuttherapie und Management der Anaphylaxie – Update 2021.
Anaphylaktische Reaktionen auf Insektenstiche, in unseren Breiten die häufigste Ursache im Erwachsenenalter, können in erster Linie bei Bienen-und Wespenstichen auftreten, nur selten sind Stiche von Hornissen (deren Gift sehr ähnlich dem der Wespen ist) oder gar Hummeln (Gift sehr ähnlich dem der Bienen) die Auslöser. Je nach Risikogruppe dominieren Bienenstiche (Imker) oder Wespenstiche (Konditoreien, Landwirte bzw. große Teile der Bevölkerung). Extrem selten sind in unseren Breiten auch anaphylaktische Reaktionen nach Mücken- oder Bremsenstichen beschrieben.
Es gibt weit verbreitete Mythen über Insektengiftallergien (ohne Hautsymptome gebe es keine Anaphylaxie, Hornissenstiche bzw. Stiche an Kopf und Hals seien besonders gefährlich, ein hoher Wert spezifischer IgE gegen Insektengifte sei ein Risikofaktor für schwere Reaktionen, ein negativer Wert für das Bienen-Hauptallergen Api m1 schließe eine Bienengiftallergie aus, eine schwere Initialreaktion sei ein Risiko für schwere Nebenwirkungen im Rahmen der Allergen-Immuntherapie gegen eine Insektengiftallergie, die Reaktionen würden von Stich zu Stich zunehmend schlimmer, ein Notfallset reiche völlig aus etc.), die sämtlich nicht auf Tatsachen beruhen.
Neben vorbeugenden Maßnahmen sollte unbedingt jedem Patienten, der auf einen Insektenstich mit einer schwereren Reaktion (v. a. in Hinsicht auf Kreislauf, Atmung) reagiert hat, eine sogenannte spezifische Allergen-Immuntherapie (Hyposensibilisierung) empfohlen werden, eine enorm wirksame Therapieform, die das Risiko einer neuerlichen, potenziell immer lebensbedrohlichen Reaktion bereits ab Erreichung der Erhaltungsdosis sehr unwahrscheinlich macht.